Aktuelles
Eintrag vom 26.11.2019 EDITH SCHULZ IST TOT
Am 14. November 2019 verstarb Edith "Ditha" Schulz im Alter von 94 Jahren in Mühlacker.
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Eintrag vom 27.10.2019 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Edith Fadtke wurde am 26. Oktober 2019 auf www.workuta.de veröffentlicht.
Eintrag vom 1.10.2019 BUCHVORSTELLUNG
Der rote Doktor
Joseph Schölmerich war Arzt, Kommunist, Antistalinist und Autor. Unmittelbar nach seiner Freilassung aus Workuta im Januar 1954 veröffentlichte er unter dem Namen Joseph Scholmer den autobiographischen Bericht "Die Toten kehren zurück" über eines der großen sowjetischen Zwangsarbeitslager. Jetzt erscheint eine Biografie über ihn.
Gerd Laudert hat für seine Biografie neue Quellen entdeckt und Zeitzeugen befragt. Eindrucksvoll schildert er das wechselvolle Leben des heute fast vergessenen Arztes, Aktivisten und Autors. So erinnern sich u.a. Siegfried Jenkner und Werner Gumpel an ihre Bekanntschaft bzw. an Begegnungen mit Joseph Schölmerich. Ursula Rumin, Ehefrau Schölmerichs in den späteren 1950er Jahren, hat den Autor bei seinen Ende 2015 begonnenen Recherchen großzügig unterstützt, indem sie ihm wichtige biographische Quellen sowohl zu ihrer Person als auch - und vor allem - zu Joseph Schölmerich zugänglich gemacht hat.
Gerd Laudert, geboren 1954 und aufgewachsen am Mittelrhein, war 30 Jahre Grund-schullehrer in Niedersachsen und ist seit Mitte der 1990er-Jahre auch Sachbuch-autor. Er veröffentlichte bisher sechs Bücher. Heute schreibt er vor allem zu literatur- und zeitgeschichtlichen Themen.
Laudert, Gerd: Der rote Doktor. Arzt, Kommunist, Antistalinist, Autor. Joseph Schölmerich (1913-1995), Berlin (Metropol Verlag) 2019.
ISBN: 978-3-86331-944-1
Voraussichtlicher Erscheinungstermin: Oktober 2019
Seitenanzahl: ca. 260 Seiten
Preis: 24,00 €
ISBN (E-Book): 978-3-86331-944-1
Preis (E-Book): 19,00 €
Eintrag vom 24.9.2019 GEDENKEN AN KOMMUNISMUS-OPFER
Erste "Letzte Adresse" für Heinz Baumbach
Frieder Wirth erzählt in dem Dokumentarfilm "Spurlos verschwunden" (Regie Peter Hartl und Andrzej Klamt, 2007), wie der Prozess vor dem Sowjetischen Militärtribunal am 16. Juli 1952 in der Potsdamer Leistikowstraße ablief. Nachdem das Tribunal seine Version der Geschehnisse dargestellt hatte, zogen die drei Richter sich zurück, vielleicht für 10 Minuten.
Danach kehrten die Richter in den Saal zurück und verkündeten die Urteile über die sieben Angeklagten: Zum Tode verurteilt, zum Tode verurteilt, zum Tode verurteilt, zum Tode verurteilt, 25 Jahre, 25 Jahre, 25 Jahre. Auch Frieder Wirth wird zum Tode verurteilt, gemeinsam mit Heinz Eisfeld, Helmut Paichert und Heinz Baumbach. Nach dem Urteil geht es für alle Verurteilten nach Russland. Nachdem die Todeskandidaten ihr Gnadengesuch geschrieben haben, wird Frieder Wirth aus der Todeszelle, die er mit Heinz Baumbach teilt, geholt. Frieder Wirth wird in eine andere Zelle verlegt, in der sich bereits zwei Gefangene befinden. Frieder Wirth sagt auf die übrigen noch leeren Bettgestelle weisend, dass seine Kameraden auch gleich kommen werden. Aber sie kommen nicht. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnt ihre Gnadengesuche ab. Heinz Baumbach, Helmut Paichert und Heinz Eisfeld werden 23. Oktober 1952 mittels Genickschuss hingerichtet. Ihre Asche wird auf dem Donskoje Friedhof in Moskau verscharrt. Frieder Wirth: „Man fragt sich schon, warum bin ich begnadigt worden und sie nicht. Es wäre ein Irrtum zu behaupten, ich wäre gerne an ihrer statt gestorben. Ich habe gerne gelebt. Aber sie auch.“
Nun wurde am 30. August 2019 in einer feierlichen Zeremonie eine Gedenktafel für Heinz Baumbach an dessen letzter Wohnadresse im thüringischen Städtchen Treffurt angebracht.
Ein Bericht von Richard Herzinger, erschienen in der WELT vom 16. September 2019.
Ins Rathaus bestellt. Und nie zurückgekehrt
- Heinz Baumbach war 25, als er 1952 zum Tode verurteilt wurde. Foto: Stefan Krikowski/ Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion
Als ihr Vater Heinz Baumbach der sowjetischen Geheimpolizei NKWD in die Hände fiel, war Hannelore Schwanz noch ein Baby. Am 10. Mai 1952 erschien ein örtlicher Polizist in Baumbachs Haus im thüringischen Städtchen Treffurt bei Eisenach und teilte ihm mit, dass er sich im Rathaus einfinden solle. Baumbach ging hin und kehrte nie zurück.
Niemand, nicht einmal seine 21 Jahre junge Ehefrau Brigitte, erfuhr etwas über seinen Verbleib. Da sie von einem Augenblick auf den anderen auf sich allein gestellt war und nicht wusste, wie sie sich und ihr Kind ernähren sollte, wollte sie sich aus Verzweiflung das Leben nehmen.
- Tanja Hartmann (l.) und Hannelore Schwanz bei der Gedenkfeier für ihren Großvater und Vater. Die Würdigung, so die beiden, empfinden sie als tröstlich. Foto: Stefan Krikowski.
Danach aber, ergänzt Hannelores Tochter Tanja Hartmann, erwies Brigitte Baumbach sich als "eine sehr starke Frau. Für sich war sie wohl betrübt, nach außen aber war sie für uns alle da, auch für uns Enkel als Oma."
Erst 1966 erfuhren die Angehörigen nach langen, vergeblichen Nachforschungen offiziell, dass Heinz Baumbach tot war. Doch die Todesurkunde, die ihnen vom Standesamt der Stadt Moskau zugestellt wurde, war gefälscht.
Baumbach, heißt es darin, sei im Oktober 1954 in der sowjetischen Hauptstadt gestorben. Eine Todesursache wurde nicht genannt. Was mit ihm tatsächlich geschehen war, wollten die Sowjetbehörden verschleiern.
In Potsdam wurde er zum Tode verurteilt
Sein Schicksal kam erst Anfang der 1990er-Jahre, nach dem Ende des kommunistischen Imperiums, ans Licht, als in Russland die Archive geöffnet wurden. Der 25-jährige Installateur war im Untersuchungsgefängnis in Potsdam am 16. Juli 1952 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen "antisowjetischer Aktivitäten" zum Tode verurteilt worden.
Anschließend transportierte man ihn nach Moskau, wo er bereits am 23. Oktober 1952, zwei Jahre früher als in der Todesurkunde angegeben, per Genickschuss hingerichtet wurde.
Der Fall Baumbach steht exemplarisch für die mörderische Willkür der sowjetischen Besatzungsmacht in der frühen DDR. Für deren weitgehend vergessene Opfer will ein neues Gedenkprojekt unter dem Titel "Die Letzte Adresse" ein Erinnerungszeichen setzen und das Unrecht, das ihnen geschah, damit stärker ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit rücken.
An ihrem jeweils letzten Wohnort soll eine Gedenktafel angebracht werden, um die Verschleppten, die in sowjetischer Haft hingerichtet wurden oder auf andere Weise zu Tode kamen, der Anonymität zu entreißen.
Das Projekt wurde 2013 in Moskau von der Nichtregierungsorganisation Memorial gestartet, die gegen die Verdrängung und Unterdrückung der Erinnerung an die Opfer des kommunistisch-stalinistischen Terrors ankämpft.
Gerade in Putins Russland, wo die Stalin-Zeit zunehmend wieder idealisiert wird, ist dieses Bestreben mit wachsenden Widerständen konfrontiert. Immerhin: „Die russischen Behörden beobachten unsere Aktivität zwar mit Skepsis, dulden sie aber“, sagt Marina Bobrik von der Stiftung Letzte Adresse, die zur Realisierung des Projekts ins Leben gerufen wurde.
Inspiriert wurde es durch die "Stolpersteine", die in Deutschland zum Andenken an in die NS-Vernichtungslager deportierte Juden verlegt werden.
In Russland, der Ukraine, Tschechien, Georgien und Moldawien wurden bereits 980 dieser Plaketten platziert. Jetzt hat der deutsche Zweig von Memorial das Projekt auf das frühere DDR-Territorium ausgeweitet. Heinz Baumbach ist das erste Opfer, das in Deutschland mit einer solchen Gedenktafel gewürdigt wurde.
Nach einer kleinen Erinnerungszeremonie in Anwesenheit von Bürgermeister Michael Reinz (parteilos) und Peter Wurschi, dem thüringischen Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, wurde sie kürzlich an jenem Haus in Treffurt befestigt, das die letzte Wohnadresse Baumbachs vor seiner Verschleppung war.
In demselben Haus lebt heute noch Baumbachs Enkelin Tanja Hartmann; ihre Mutter Hannelore Schwanz wohnt nur wenige Meter entfernt in derselben Straße. Obwohl die schrecklichen Ereignisse bereits fast 70 Jahre her sind, ist die Vergangenheit am Ort des Geschehens so stets präsent.
- Gedenktafel "Letzte Adreasse" für Heinz Baumbach in Treffurt in Thüringen. Hier lebte er, bevor der 25-Jährige wegen „antisowjetischer Aktivitäten“ in Moskau hingerichtet wurde. Foto: Stefan Krikowski .
Gewürdigt wird nur, wer keine Straftat begangen hat
Für das Projekt ist entscheidend, nur solche Personen zu würdigen, die nachweislich selbst keine Verbrechen begangen haben, ob in Diensten des Nationalsozialismus oder der kommunistischen Diktatur. Das trifft auf Heinz Baumbach unzweifelhaft zu.
- Auch die Lagergemeinschasft Workuta / GULag Sowjetunion gedachte Heinz Baumbach. Foto: Stefan Krikowski.
Von dieser Gruppe kannte Baumbach nur Helmut Paichert persönlich. Der war 1945 mit seiner Familie auf der Flucht aus Schlesien in Treffurt gestrandet, wo sich Baumbach mit ihm anfreundete. Später zog Paichert in das 200 Kilometer entfernte Meuselwitz. Baumbach hielt aber den Kontakt zu dem sieben Jahre jüngeren Freund.
Das genügte dem sowjetischen Geheimdienst, um ihn als Feind zu identifizieren und zu ermorden. "Vermutlich wird Paichert unter den brutalen Verhören auch den Namen Heinz Baumbach genannt haben", erläutert Stefan Krikowski, Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion, in der sich deutsche Überlebende der sowjetischen Straflager zusammengeschlossen haben und die das Projekt "Die Letzte Adresse" unterstützt.
Im sogenannten Meuselwitzer Gruppenprozess waren neben Baumbach sechs Angehörige dieses Kreises angeklagt. Außer Baumbach wurden Paichert, Heinz Eisfeld und Frieder Wirth zum Tode verurteilt. Drei weitere Mitglieder erhielten 25 Jahre Zwangsarbeit.
Zwei von ihnen verschleppte man in das berüchtigte Straflager Workuta, einen ins Lager Taischet. Die zum Tode Verurteilten konnten unmittelbar nach dem Prozess weitgehend vorgefertigte Gnadengesuche einreichen; doch nur das Urteil von Wirth wurde in Zwangsarbeit umgewandelt.
Ehefrau, Tochter und Enkelin erfuhren Anfang der 1990er-Jahre erstmals, was mit Baumbach genau geschehen war. Doch ihre Bemühungen, im nachkommunistischen Russland ein Rehabilitationsverfahren in Gang zu bringen, wurden fürs Erste ausgebremst.
Der Polizist, der Baumbach damals die Nachricht überbracht hatte, sich im Rathaus zu melden, weigerte sich, diesen Sachverhalt zu bezeugen. "Und das", sagt Tanja Hartmann, "obwohl er damals vielleicht selbst gar nicht wusste, worum es bei der Vorladung meines Großvaters ging."
Das in der DDR verhängte strikte Tabu, über das Schicksal der Opfer des sowjetischen Terrors zu sprechen und an den damaligen Vorgängen zu rühren, zeigte noch nach deren Ende Wirkung. Auch der örtliche Anwalt, der bereits zu DDR-Zeiten praktiziert hatte und ihre Sache vertreten sollte, zeichnete sich laut Tanja Hartmann nicht durch besonderen Eifer aus, den Fall voranzubringen.
Später gelang es dann doch, die Rehabilitierung zu erwirken. Sie erfolgte 1996. Brigitte Baumbach hat dies aber nicht mehr erlebt. Im Dezember 1993, kurz nach der Begegnung mit dem Polizisten, der an nichts mehr erinnert werden wollte, erlitt sie einen Schlaganfall und starb.
"Meine Oma war teilweise als Verbrecherfrau tituliert worden", klagt die 1975 geborene Tanja Hartmann über die schwere Zeit des Beschweigens des Schicksals ihres Großvaters in der DDR. Der Ort sei allerdings gespalten gewesen. "Ein Teil zeigte Mitgefühl mit uns, andere streuten böse Gerüchte."
Für Hannelore Schwanz und Tanja Hartmann bedeutet die Würdigung ihres Vaters und Großvaters eine große emotionale Erleichterung. Denn auch nach dem Ende der DDR haben Fälle wie seiner kaum die Aufmerksamkeit der breiteren deutschen Öffentlichkeit gefunden.
Das liegt wohl auch an der Sorge, eine zu intensive Erinnerung an die Opfer des kommunistischen Terrors könnte NS-Verbrechen relativieren. Doch auch Untaten im Namen des Sowjet-Regimes sind Teil der deutschen Geschichte, deren Opfern ein angemessener Platz in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur gebührt.
Das Projekt "Die Letzte Adresse" ist jedenfalls weit von einer unzulässigen Gleichsetzung der beiden totalitären Systeme entfernt. Es geht um nichts mehr und nichts weniger als individuelle Schicksale, die vor dem Vergessen zu bewahren sind.
...schließenEintrag vom 25.8.2019 "LETZTE ADRESSE"
Keine "Letzte Adresse" für Wolfgang Kreyßig
Und dann stand ich am 10. August 2019 zur verabredeten Zeit vor ihr, in ihrer Wohnung im Chemnitzer Ortsteil Reichenbrand. So, oder wenigstens so ähnlich hatte ich mir sie vorgestellt. Klein und zierlich. Gut, die dunklen Haare waren jetzt silbergrau, und das Mädchenhafte, das sie auf dem Foto, das sie mir geschickt hatte, ausstrahlte, war verschwunden. Was auch nicht verwunderlich für eine 92-Jährige ist. Beeindruckt haben mich sofort ihre kerzengerade Haltung und ihr klarer, sanfter Blick. Nichts an ihrer Erscheinung deutet auf ihr hartes Schicksal hin.
Kennengelernt habe ich Elfriede Kreyßig über Anita Wille vor fast sieben Jahren während der Datenerhebung für die Website der Lagergemeinschaft workuta.de. Ohne großes Aufheben schickte sie mir ihren Lebenslauf, ein Foto, ihren Entlassungsschein aus Fürstenwalde, ihre Rehabilitierung und einen Lebensbericht. Seitdem haben wir uns einmal im Jahr zu Weihnachten geschrieben.
Als vor etwa einem Jahr Anke Giesen von Memorial Deutschland e. V. Kontakt zu mir aufnahm, um das Projekt "Letzte Adresse" vorzustellen, das die russische Menschenrechtsorganisation Memorial jetzt auch auf Deutschland ausweiten möchte, habe ich sofort an Frau Kreyßig gedacht. Mit diesen Gedenktafeln möchte Memorial – als Pendant zu den Stolpersteinen, die an Holocaust-Opfer erinnern – der Menschen gedenken, die unschuldig in der Sowjetunion erschossen wurden oder im GULag umkamen.
Ob sie sich vorstellen könne, für ihren Ehemann Wolfgang Kreyßig eine solche Gedenktafel an seiner letzten Wohnadresse anbringen zu lassen, fragte ich Frau Kreyßig. Sie antwortete am Telefon, dass sie dafür im Prinzip sehr offen sei, es gebe nur ein Problem. Das Haus, in dem die damals frisch Verheirateten wohnten, sei in den 1970-er Jahren abgerissen worden. Aber vielleicht wäre der Bäcker nebenan bereit, die silbergraue Gedenktafel in der Größe eines Briefumschlags (11 x 19 cm) an sein Haus, neben der Einfahrt zum ehemaligen Wohnhaus, anzubringen.
- Das Hochzeitspaar am 12. Oktober 1950.
Am Morgen des 22.Juni 1951 entdeckte Frau Kreyßig auf dem Weg zur Arbeit, dass das Hochzeitsfoto aus dem Fotogeschäft verschwunden war. Umgehend informierte sie ihren Ehemann. Umsonst. Er wurde noch am selben Tag vor seinem Haus verhaftet.
- Stefan Krikowski im Gespräch mit Frau Kreyßig, vor dem Ort, wo früher ihr Wohnhaus gestanden hatte.
Am 15. Juli 1951, drei Wochen nach dem Verschwinden ihres Ehemanns, wurde Frau Kreyßig verhaftet und in die Haftanstalt "Roter Ochse" in Halle eingeliefert."Die ganze erste Woche habe ich nur geweint", erzählte Frau Kreyßig. Dann wurde sie aus der Einzel- in eine Gemeinschaftszelle verlegt, wo sie Anita Wille kennenlernte. Später beim Kaffeetrinken gestand Frau Kreyßig, dass unter normalen Umständen Anita Wille und sie wohl nie Freundinnen geworden wären, da sie völlig unterschiedliche Typen seien. Anita Wille war die Wagemutige, Kesse, Vorlaute. Aber der "Rote Ochse" hat sie zusammengeschweißt. Es gebe keine bessere Kameradin als Anita Wille, schwärmte Frau Kreyßig. Sie sei von Anita nach Kräften beschützt worden. Und obwohl sie sich jetzt nicht mehr treffen könnten, da sie beide schlecht zu Fuß seien, würden sie immer noch gelegentlich miteinander telefonieren.
Als Elfriede Kreyßig sich in der Zelle den Haftkameradinnen vorstellte, wusste Anita Wille sofort, wen sie vor sich hatte. In den Tagen und Wochen zuvor hatte sie nämlich mit Elfriedes Ehemann Wolfgang "geklopft". Er hatte ihr u. a. per Klopfzeichen mitgeteilt, dass er einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, als der sowjetische Verhörspezialist ihm offenbarte, dass sie jetzt auch seine Ehefrau verhaftet hatten.
Im Gruppenprozess gegen 15 Personen vor einem sowjetischen Militärtribunal im Roten Ochsen am 21. November 1951 sahen sich Elfriede und Wolfgang Kreyßig erst- und letztmalig wieder. Wolfgang Kreyßig wurde bezichtigt, der Kopf einer Widerstandsgruppe zu sein und Spionage für den amerikanischen Geheimdienst betrieben zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt. Sie wurde wegen angeblicher Mitwisserschaft zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt.
In einem unserer Telefonate zu Beginn des Jahres sagte Frau Kreyßig: "Bei der Verhaftung haben sie unsere Eheringe abgenommen. Die hätte ich gerne zurück." Ich riet ihr, Kontakt zur Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Dresden) aufzunehmen, die ihr Unterstützung bei der Antragstellung gewährte. Der Föderale Sicherheitsdienst der Russischen Föderation (FSB Russlands) antwortete am 27. März 2019 auf ihren Antrag zur Herausgabe ihrer Wertsachen: "In den Unterlagen der Akte sind Angaben darüber enthalten, dass die Wolfgang Kreisig und Elfriede Kreisig gehörenden Wertsachen am 24. Januar 1952 zugunsten des Staatshaushalts übergeben wurden." Die Eheringe waren demnach schneller im russischen Staatshaushalt verschwunden, als Frau Kreyßig in Workuta war.
Nach dem Urteil konnte Frau Kreyßig für einen kurzen Moment ihren Mann sprechen. Sie versprach ihm, auf ihn zu warten. Er solle ein Gnadengesuch schreiben. "Wir werden uns später in Chemnitz wiedertreffen." Frau Kreyßig wurde zusammen mit Anita Wille nach Workuta deportiert. Dort waren sie in derselben Baracke untergebracht, schufteten aber in verschiedenen Brigaden im Gleisbau. Frau Kreyßig musste u.a Schotter auf einen Bahnwagen laden; im Winter hatte sie Schnee zu schaufeln in der Tundra als Vorbereitung zum Bau einer Eisenbahnstrecke. Man kann sich nicht vorstellen, wie die zierliche, kaum 1,60 Meter große Frau bei den eisigen Bedingungen den Spaten über ihren Kopf Richtung Ladefläche schwingen konnte.
Am 19. Juni 1953 kam der Befehl, dass Frau Kreyßig auf Etappe gehen sollte. Ein schwerer Moment war es für die beiden Kameradinnen, als sie sich am Lagertorverabschieden mussten. Wahrscheinlich hofften beide, dass die Trennung nur von kurzer Dauer sei. Wer konnte wissen, dass ihre Freundin Anita erst zwei Jahre später, im Oktober 1955 entlassen werden würde. Elfriede Kreyßig musste noch bis Ende Dezember in Tapiau (bei Königsberg) in Haft bleiben, bevor sie am 28. Dezember 1953 über Fürstenwalde nach Hause fahren durfte. Sie schickte ihren Eltern ein Telegramm, ihr erstes Lebenszeichen nach zweieinhalb Jahren des Verschollenseins, aber sie kam an dem Tag nicht in Chemnitz an, da die Lagerleitung in Fürstenwalde keine Zivilkleidung in ihrer Größe hatte.
Für Frau Kreyßig hat sich nie die Frage gestellt, nach der Haftentlassung in den Westen zu gehen. Zu sehr war sie heimatverbunden. Und außerdem wollte sie eine nochmalige Trennung ihren Eltern nicht antun. Im Januar 1954 fing sie in ihrer früheren Firma wieder an zu arbeiten. Dort blieb sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1987.
All die Jahre wartete sie vergeblich auf ihren Ehemann. Ende der 1950-er Jahre erfuhr sie über das Internationale Rote Kreuz, dass ihr Ehemann in Russland umgekommen sei. Aber da sie keine weiteren Angaben über die näheren Umstände erfahren hatte, war da immer die Hoffnung, die Meldung sei falsch.So hat sie ihren Mann auch nie für tot erklären lassen. Erst Anfang der 1990-er Jahre erfuhr sie über das Außenamt der Bundesregierung, dass Wolfgang Kreyßig bereits am 26. März 1952 im Moskauer Butyrka-Gefängnis hingerichtet und seine Asche auf dem Donskoje Friedhof verscharrt worden war.
Die Gedenktafel "Letzte Adresse" an der Bäckerei wäre das einzige öffentliche Gedenken an das Unrecht, das Wolfgang Kreyßig widerfahren ist. Aber der Eigentümer der Bäckerei, den Frau Kreyßig schon als kleinen Jungen kannte, hat auf ihren Brief nicht einmal geantwortet.
"Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann." Dieser Spruch auf dem Fächer, den ihr Wolfgang Kreyßig einst während einer der Tanzstunden geschenkt hatte, ist zu ihrem Lebensmotto geworden.
Stefan Krikowski, August 2019
...schließenEintrag vom 10.7.2019 DIETMAR BOCKEL IST TOT
Am Pfingstsonntag, den 9. Juni 2019 verstarb Dietmar Bockel im Alter von 88 Jahren in Ludwigsburg.
Ein Nachruf von Dr. Horst Hennig und Prof. Dr. Gerald Wiemers.
Dietmar Bockel wurde am 17. Dezember 1930 in Jena geboren. Aufgewachsen ist er als einziges Kind von Rudolf Bockel und seiner Ehefrau Lore in Mühlhausen. Dort war sein Vater als Lehrer tätig. Später, in der DDR, als er nicht mehr Lehrer sein durfte, arbeitete er als Taxifahrer.
Nach dem Abitur nahm Dietmar Bockel eine Schlosserlehre im VEB Möve-Werk Mühlhausen auf, um anschließend zum gewünschten Studium für Maschinenbau delegiert zu werden.
Als Jugendlicher hatte er Flugblätter gegen die aufziehende Diktatur in der SBZ verteilt. Zusammen mit seinen Kameraden wurde er in Mühlhausen, seiner Heimatstadt, von der DDR-Staatsicherheit am 5. August 1950 verhaftet und entgegen § 10 der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949, "Kein Bürger darf einer Auswärtigen Macht ausgeliefert werden", an die russischen Besatzer, Freunde genannt, übergeben. Von Beginn an war die DDR ein Unrechtsstaat. Damit nicht genug.
Bockel und sein Klassenkamerad Ulrich Bednarek wurden in das Stasi-Gefängnis "Weißes Haus" in Weimar verschleppt. Die Bevölkerung nannte es die "Folterhölle". Dietmar Bockel war dort tagelang in einer Wasserzelle eingesperrt und durfte nur stehen. Knöchelhoch stand dort Wasser. Es lief von den Wänden und tropfte von der Decke. Der junge Mann wurde krank.
Die jungen Abiturienten bzw. Lehrlinge wurden einer Gruppe zugeteilt, die ausschließlich der Spionage bezichtigt wurde. Man kannte sich nicht. Das sowjetische Militärtribunal (SMT) 48240, eine gefürchtete mobile "Rechtsinstanz", urteilte am 18. März 1951 über die "Gruppe Peters" schnell und hart: Walther und Gertrud Peters, Kurt Cramer und Horst Zschuppe, Spielzeughändler, wurden zum Tode durch Erschießen verurteilt; sie wurden am 14. Juni 1951 in Moskau hingerichtet. Die anderen, Dietmar Bockel, Otto Rabe, Georg Voigt und Gerhard Welcke (Opernkapellmeister in Leipzig) bekamen je 25 Jahre Arbeitslager zugeteilt. Lediglich Ulrich Bednarek erhielt die "Kinderstrafe" von 10 Jahren. Offenbar stand er nicht unter der Anklage der Spionage.
"Erst allmählich begriffen wir", so Dietmar Bockel rückblickend 1998, "was da vor sich ging. Man hatte uns als politischen Sondermüll den Russen überlassen. Zu diesem Zeitpunkt behauptete die Regierung der DDR ein völkerrechtlich souveräner Staat zu sein. Die Überlassung eigener Staatsbürger an einen anderen Staat, steht meines Erachtens ohne Beispiel da. Als wir später sowjetische Justizoffiziere auf unsere Nationalität aufmerksam machten und wünschten, vor ein deutsches Gericht gestellt zu werden, zeigte man uns irgendwelche Papiere. Aus denen ging hervor, dass die DDR uns ausgebürgert hatte. Wir waren fortan Freiwild."
- Dietmar Bockel, 2008.
Sie alle, neun an der Zahl, sind 1994 von der russischen Hauptstaatsanwaltschaft rehabilitiert und in allen Anklagepunkten für unschuldig erklärt worden. Die Unrechtshandlungen blieben ungesühnt, die Täter unbestraft. Die Asche der vier Hingerichteten wurde in einem Massengrab verscharrt, nahe dem ehemaligen Kloster Donskoje bei Moskau. Auf dem gleichen Friedhof wurde auch der NKWD-Henker Wassili M. Blochin (1895-1955) bestattet, der Tausende seiner Opfer durch Genickschuss umgebracht hatte.
Dietmar Bockel kam in das berüchtigte sowjetische Straflager Workuta, nördlich des Polarkreises gelegen, ausgewiesen mit "verschärften Regime". Trostlosigkeit, Hunger und Kälte bestimmten seinen schweren Alltag. Monate später wurde er im Lager 10, Schacht 29, unter Tage zur Messung des Gases eingesetzt. Am 1. August 1953 geschah das Unfassbare. Im Schacht 29 wurde einen Tag zuvor die Arbeit niedergelegt. Ein Streik, der sich zum Aufstand ausbreitete und blutig niedergeschlagen wurde. 64 Tote und mindestens 123 Verletzte sind zu beklagen. Dietmar Bockel blieb unverletzt und konnte seinen schwer verletzten Freund Heini Fritsche zu dem gefangenen Arzt Suslin schleppen. Heini Fritsche überlebte.
Über 170 Briefe schrieb Vater Rudolf Bockel an Institutionen, lokale Funktionäre und an die sogenannten Repräsentanten der DDR, um über das Schicksal seines Sohnes eine Auskunft zu erhalten. Vergebens! Der Junge blieb nach der Verhaftung am 5. August 1950 für die Eltern verschwunden. Lediglich Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann (LDPD) kümmerte sich. Sein Schreiben über den Verbleib von Dietmar Bockel an den damaligen Staatssekretär Erich Mielke blieb unbeantwortet. Die Blockparteien waren ohne Einfluss. Die DDR ein Rechtsstaat? Erst nach über drei Jahren erfuhren die Eltern von Dietmar Bockel, dass ihr Sohn in sowjetischem Gewahrsam war und zu einer Strafe von 25 Jahren verurteilt wurde. Endlich, nach der Intervention von Konrad Adenauer in Moskau, kam auf Umwegen über Rewda auch Dietmar Bockel frei. Am 16. Dezember 1955 traf er im Grenzdurchgangslager Friedland ein und einen Tag später, an seinem 25.Geburtstag, wurde er von Verwandten abgeholt. Zwei Tage darauf trafen seine Eltern ein. Nach 5 ½ Jahren sahen sie ihren Sohn wieder. 1956 begann er an der Universität Stuttgart mit dem Studium für Maschinenbau. Als Diplom-Ingenieur arbeitete er von 1961-1996 bei der Daimler-Benz AG.
Spät, nach der deutschen Wiedervereinigung, kam auch die Anerkennung für Dietmar Bockel. Sein Kampf, früh für demokratische Rechte eingetreten zu sein, war nicht umsonst. So lange er konnte, besuchte er die Jahrestagungen der Lagergemeinschaft Workuta. Dietmar Bockel lebte mit seiner Ehefrau Helga, mit der er seit 1969 verheiratet war, in Eberdingen (Baden-Württemberg) und ist in Ludwigsbug am 9. Juni 2019 gestorben. Mit der Ehefrau trauern die zwei Töchter Kerstin und Eva um ihren Vater.
Dr. Horst Hennig und Prof. Dr. Gerald Wiemers
...schließenEintrag vom 7.6.2019 WERNER SPERLING IST TOT
Am Gründonnerstag, den 18. April 2019 verstarb Prof. Dr. Werner Sperling im Alter von 87 Jahren in Schwerte.
Ein Nachruf von Uta Gerlant, Leiterin Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, Potsdam.
Werner Sperling, 16. März 1932 - 18. April 2019
- Werner Sperling, Gedenkstätte Lindenstraße, Potsdam, 2008.
Werner Sperling kam am 16. März 1932 in Mölbis zur Welt. Zusammen mit neun Geschwistern wuchs er in der Kleinstadt südlich von Leipzig auf. 1950 beendete er als Jahrgangsbester seine Lehre zum Bergmaschinenmechaniker im Braunkohlewerk Espenhain. Beim Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) kam er in Kontakt mit den Falken, der Jugendorganisation der SPD. Auch mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und dem US-Geheimdienst CIA in West-Berlin kam er in Verbindung. Er gab Informationen über den Segelflugzeugmodellbau der FDJ-Gruppe seines Betriebes weiter, verteilte Flugblätter der KgU in Espenhain und malte den Buchstaben F an Mauern – eine Aktion, zu der die KgU viele Jugendliche in der DDR anstiftete. F stand für Freiheit und für Feindschaft gegen die Sowjets. Als er eine Warnung erhielt, stellte er diese Aktivitäten ein und brach seine Kontakte nach West-Berlin ab.
Am 6. Dezember 1950 nahm der Staatssicherheitsdienst der DDR Werner Sperling fest und brachte ihn nach kurzem Aufenthalt in Leipzig in das Stasi-Gefängnis in der Potsdamer Bauhofstraße. Ein Schließer, den er als freundlich beschrieb, flüsterte ihm zu, sein Bruder sei auch da, und dass sie sich nicht gegenseitig belasten sollten. "Das werde ich ihm nie vergessen", schrieb Werner Sperling in seinen Erinnerungen. Nach zehn Tagen wurde er von der Stasi den Sowjets übergeben und kam in das NKWD/MGB-Gefängnis Lindenstraße. Ein Mitgefangener sagte ihm, weil er so jung sei, solle er sich alles merken – er müsse später darüber berichten. Und das tat er dann auch. Werner Sperling behielt unglaublich viele Details und Namen in seinem Gedächtnis. Im Gefängnis Lindenstraße wurden Werner Sperling, sein zwei Jahre älterer Bruder Herbert und dessen Verlobte Inge Löwendorf am 27. April 1951 vom Sowjetischen Militärtribunal 48240 zu je 25 Jahren Arbeitslager in der Sowjetunion verurteilt; Werner und Inge kamen in den GULag nach Workuta, Herbert nach Taischet. Der Lehrer Manfred Schnee, geboren 1928, wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt und in Moskau hingerichtet.
Für Werner Sperling war es immer wichtig zu betonen, wie sehr sich seine Mutter für ihre inhaftierten Kinder einsetzte, wie sie nach ihnen suchte und zu ihnen hielt. Das war für ihn immer ein Trost – auch viele Jahre nach der Haft. Werner Sperling kehrte Ende 1953 in die DDR zurück, konnte lange keine Arbeit finden und floh 1961 kurz vor dem Mauerbau in den Westen. 47 Jahre nach seiner Entlassung aus dem GULag wurde er im Dezember 2000 von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert; der Vorwurf der Spionage (gemäß § 58-6 Teil 1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderativen Sowjetrepublik) wurde aufgehoben.
Seit den 1990er Jahren reiste Werner Sperling gerne und oft nach Russland, leistete humanitäre Hilfe und nahm Lehraufträge an. Er war nicht verbittert und hielt Vorträge über Workuta, um die Ereignisse, die sein Leben entscheidend geprägt hatten und über die viele nichts wussten, bekannt zu machen. Auf seiner Webseite schrieb er: "Das Trauma bleibt aber – so glaube ich – ein Leben lang!" Dieses Leben ist nun zu Ende gegangen. Wir behalten Werner Sperling, der sich so vieles aus der Haft sehr genau in sein Gedächtnis eingeprägt hatte, der offen auf andere zuging und gleichzeitig gern für sich war, in dankbarer Erinnerung.
...schließenEintrag vom 3.6.2019 BERICHT DER JAHRESTAGUNG
Der Mauerfall vor 30 Jahren und die Auswirkungen auf die Aufarbeitung kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland
Unter diesem Motto fand die Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion vom 24. bis 26. Mai 2019 in Königswinter statt.
Ein Bericht von Prof. Dr. habil. Gerald Wiemers
Von Adenauer zu Adenauer. Unter dieser paradoxen Überschrift hätte die Jahrestagung auch stehen können. Am 8. September 1955 flog Konrad Adenauer mit einer Delegation, die aus 141 Personen bestand, zu seinem ersten Staatsbesuch nach Moskau. Dort gelang es ihm, nach zähen Verhandlungen am 12. September die Zusage der sowjetischen Führung zu erreichen, dass alle Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs UND die SMT-Verurteilten aus Deutschland und Österreich in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Das geschah mit Unterbrechungen 1955/56. Es war die "Heimkehr der Zehntausend". Unter den Heimkehrer befanden auch sich die politischen Gefangenen der Lager in Workuta.
- Granzniederlegung vor dem Grab Konrad Adenauers, Stefan Krikowski (li.) und Frieder Wirth (re.)
Vor mehr als 50 Teilnehmern konnte der Sprecher der Lagergemeinschaft, Stefan Krikowski, am Ende eine positive Bilanz der dreitägigen Veranstaltung ziehen. Es ist vor allem sein Verdienst, erneut ausgezeichnete Vorträge und gute Beiträge organisiert zu haben. Die Liste der verstorbenen Angehörigen ist angewachsen, darunter auch der langjährige Vorsitzende Horst Schüler. Die biologische Uhr tickt weiter. Außerdem konnten einige Teilnehmer aus Krankheitsgründen nicht anreisen. Der Entschluss, auf die Jahrestagungen zugunsten anderer Formen der Kommunikation zu verzichten, fiel nicht leicht. Die Internetpräsentationen von Stefan Krikowski zu allen Veränderungen in der Lagergemeinschaft und zu neuen Publikationen bleiben selbstverständlich erhalten. Es gab auch Überlegungen von Edda Ahrberg und Anne Drescher eine eigene Zeitschrift herauszugeben. Denkbar wäre auch zu den Jahrestagungen des Gedenkens an Herbert Belter nach Leipzig oder zum Halle-Forum einzuladen.
- Der stellvertretende Bürgermeister von Königswinter, Norbert Mahlberg
- Dr. Hubertus Knabe
Auch die personelle Erneuerung erfolgte unzureichend. Mit der Fokussierung auf die Staatsicherheit geriet die SED aus dem Schussfeld. In den Landtagen sitzen noch immer IMs, und in Schulen unterrichten auch stasibelastete Lehrer. Die Erneuerung ist sehr unvollständig geblieben. Den Opfern bleibt nur zu resignieren. In der politischen Diskussion leugnen neue Mandatsträger ihre Stasibelastung. Und so steht ihre Aussage gegen die Niederschrift in den Akten. Die Nachweise sind oft lückenhaft und so glauben die Gerichte den persönlichen Aussagen. So bleibt am Ende nur die historische Aufarbeitung. Sie wird erschwert, weil in den SED-Zentralen fast alles in der Zeit der friedlichen Revolution vernichtet worden ist. So sind Zeitzeugen von größter Bedeutung.
- Roman Grafe
Anstelle des verhinderten Dr. Bert Pampel sprach Dr. Matthias Buchholz, Leiter des Archivs der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, über Vor- und Nachlässe der Opfer des SED-Regimes. Das betraf alle Mitglieder der Lagergemeinschaft Workuta. Schriftliche Nachlässe sind Archiv- und kein Sammlungsgut. Sie können ihren Platz in regionalen und überregionalen Archiven finden. Wichtig ist, dass die Nachlässe zusammen bleiben. Buchholz regte an, dass sich Geschichtslehrer mit dem Thema GULag beschäftigen sollten. Bisher wird das Thema "DDR" stiefmütterlich behandelt und ist noch immer kein Abiturstoff.
- Eduard Lindhammer
Der Leiter des Universitätsverlages Leipzig, Dr. Gerald Diesener, stellte ein Verlagsobjekt vor, dass im Herbst realisiert werden soll: "Sigurd Binski, Freiheit in Verantwortung, Beiträge zur Zeitgeschichte", so der Arbeitstitel der Herausgeber Horst Hennig und Gerald Wiemers. Zum Abschluss erinnerte Dr. Horst Hennig an die Kulturgeschichte der Völker Europas, an Leitlinien und Festpunkte in der Geschichte, einer davon ist Workuta. Es gilt daran stetig zu erinnern und damit der Wahrhaftigkeit zu dienen.
- Gruppenfoto mit den letzten Zeitzeugen
Eintrag vom 27.4.2019 ROLAND BUDE IST TOT
Am 17. April 2019 ist Roland Bude kurz nach Vollendung seines 93. Lebensjahres gestorben.
Ein Nachruf von Dr. Peter Moeller, Vorsitzender des Verbands Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS)
Der Verein Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS) trauert mit vielen Freunden um den Verlust eines hoch verdienten Mitglieds.
- Roland Bude, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Schwerin, 3.-5. Juni 2016.
Das Leben von Roland Bude ist gekennzeichnet von all dem, was die jüngere Geschichte ausmacht. Im Alter von 17 Jahren wurde er mit all seinen Klassenkameraden zu den Flak-Helfern einberufen. Es folgten Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft. Flucht und Vertreibung aus der Heimat, dem Sudetenland, schlossen sich an. In Thüringen fand er eine neue Bleibe. 1947 konnte er dann sein Studium in Jena beginnen, das er in Rostock fortsetzte. Aber die Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn wich sehr schnell der Einsicht, dass sich in der SBZ/DDR eine neue Diktatur ausbreitete und auch die Universitäten erfasste. So engagierte er sich im Studentenrat. Gemeinsam mit gleichgesinnten Kommilitonen versuchte er, die Vorhaben der längst von der SED gesteuerten FDJ zu unterwandern. Viele Namen aus diesem Freundeskreis findet man in den frühen Mitgliederlisten des später gegründeten VERS. Die Staatssicherheit und bereits deren Vorläufer, die politische Polizei K5, hatten diese Gruppierung von oppositionellen Studenten längst im Visier. Im Juli 1950 wurde Roland Bude verhaftet und der sowjetischen Geheimpolizei übergeben. Ein sowjetisches Militärtribunal in Schwerin verurteilte ihn zu zwei Mal 25 Jahren Arbeitslager. Es folgten fünf Jahre in Workuta unter unmenschlichen Bedingungen. Und auch hier fanden sich ehemalige Rostocker Studenten wieder zusammen. Das kaum zu hoffende wurde Wirklichkeit, als es dem ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinen Verhandlungen in Moskau gelang, die letzten deutschen Kriegsgefangenen und die poltischen Gefangenen aus den Lagern der Sowjetunion heimzuholen.
Der 16. Oktober 1955, als der Zug mit den Heimkehrern die Grenze zur Bundesrepublik passierte und kurz darauf in Friedland eintraf, war gewiss einer der glücklichsten Tage von Roland Bude. Vom Empfang dort und von dem gemeinsamen, spontan angestimmten Choral „Nun danket alle Gott“ hat er auch noch nach Jahren in tiefer Betroffenheit berichtet.
Doch Roland Bude war ein Mann, der nicht in der Erinnerung verharrte, sondern stets nach vorne blickte. Sehr bald erreichte ihn ein Brief von Egon Klepsch, mit dem ihn die Rostocker Studienzeit eng verbunden hatte, mit der Einladung zu einem Seminar vom „Büro Bonner Berichte“. Daraufhin trafen sich bereits Anfang 1956 drei ehemalige Rostocker Studenten – Egon Klepsch, Roland Bude und Hartwig Bernitt, der ebenfalls gerade aus Workuta heimgekehrt war. Ihre gemeinsame Absicht war es, weitere ehemalige Weggefährten zu sammeln und aus dieser neuen Gemeinschaft heraus ihre Erfahrungen aus der erlebten Unfreiheit weiterzugeben und sich ganz besonders für die Werte von Demokratie und Rechtstaatlichkeit einzusetzen. Man wollte nicht abseits stehen, man wollte sich engagieren. Der Gedanke des VERS war damit unter der Mitwirkung von Roland Bude geboren.
Für sein berufliches und politisches Leben waren die tiefgreifenden Erlebnisse ebenfalls bestimmend. Im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen – später umbenannt in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen – wurde er Leiter der Abteilung Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Hier konnte er wichtige Publikationen auf den Weg bringen, u.a. den "Ammer", in dem erstmals über den studentischen Widerstand an der Universität Rostock berichtet wurde. Auch nach seiner Pensionierung zog er sich nicht in den Ruhestand zurück. Von März 1992 bis November 1994 übernahm er den Vorsitz der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) und wurde später zum Vizepräsidenten der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus ernannt. Mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse würdigte Bundespräsident Richard von Weizsäcker sein berufliches und ehrenamtliches Engagement.
Dem VERS ist Roland Bude über Jahrzehnte nicht nur eine wichtige Stütze gewesen, er hat den VERS inhaltlich mitgeformt und ihm Ansehen verliehen. Eine Herzensangelegenheit war er ihm immer. Das Erscheinen der VERS-Chronik „In Rostocker Verbundenheit“, an der er noch mitwirken konnte, hat ihn mit Genugtuung erfüllt. Nun ist seine Stimme verstummt, doch die Erinnerung an einen unbeugsamen Streiter für Recht und Freiheit bleibt erhalten. Wir wollen sie bewahren.
Uns bleibt gemeinsam mit der Familie um einen Freund zu trauern, der sich um den VERS verdient gemacht hat.
Der Nachruf erschien zuerst auf der Website des VERS http://www.vers-online.org/
...schließenEintrag vom 24.4.2019 JAHRESTAGUNG DER LAGERGEMEINSCHAFT
Der Mauerfall vor 30 Jahren und die Auswirkungen auf die Aufarbeitung kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland
Unter diesem Motto findet die Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetuntion vom 24.-26. Mai 2019 in Königswinter statt.
Programm
Freitag, 24. Mai 2019 | |
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Anreise |
19:00 Uhr |
Begegnungsabend mit Abendessen |
Samstag, 25. Mai 2019 | |
10:00 Uhr |
Begrüßung durch Stefan Krikowski, Vorsitzender |
Gedenkminute | |
Grußwort, Stellv. Bürgermeister Herr Mahlberg (Königswinter) |
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10:30 Uhr |
Was bleibt von den Erfahrungen der Opfer? 30 Jahre Aufarbeitung kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland. |
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Dr. Hubertus Knabe (Historiker) |
11:15 Uhr |
Kaffeepause |
11:45 Uhr |
Die Privilegierung von Staatskriminellen. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber (1990 bis 2004) |
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Roman Grafe (Buchautor und Journalist) |
12:30 Uhr |
Mittagessen |
14:30 Uhr |
Schicksalsklärung – Rehabilitierung – Forschung. Zum Stand der Aufarbeitung der Praxis sowjetischer Militärtribunale |
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Dr. Bert Pampel (Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Leiter der Dokumentationsstelle) |
15:15 Uhr |
Kaffee und Kuchen |
15:45 Uhr |
Die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. Eine Bilanz ihrer Arbeit unter Einbeziehung der juristischen, finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten. |
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Eduard Lindhammer (Vorsitzender der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge) |
16:15 Uhr |
Die Arbeit der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion: Bericht und Diskussion, Planung der Weiterarbeit |
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Stefan Krikowski, Edda Ahrberg |
17:30 Uhr |
Film- oder Buchvorstellung N.N. |
19:00 Uhr |
Begegnungsabend mit Abendessen |
Sonntag, 26. Mai 2019 |
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Frühstück |
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9:30 Uhr |
Abfahrt zum Adenauerhaus (Treffpunkt Hotellobby) |
10:00 Uhr |
Besuch des Adenauerhauses (Rhöndorf) mit Kranzniederlegung auf dem Waldfriedhof |
13:00 Uhr |
Abschluß der Tagung und Abreise |
Tagungsort: Maritim Hotel Königswinter, Rheinallee 3, 53639 Königswinter
Die Tagung wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziell unterstützt.
...schließenEintrag vom 22.4.2019 HANS SOHN IST TOT
Am 10. April 2019 verstarb Hans Sohn im Alter von 90 Jahren in Stuttgart.
Ein Nachruf von Peer Lange mit Peter Eberle, Werner Gumpel, Gerald Joram und Horst Wöhe - als den noch lebenden „9/10ern"
Unser "Guter Kamerad" „Hänschen", Hans Sohn, ist mit 90 Jahren am 10. April
2019 nach längerem Siechtum letztlich friedlich "na etap" von uns und in die andere
Welt gegangen. Ihn kenne ich, seit wir uns nach unserer jeweiligen Begnadigung zu
25 Jahren in einer Zelle der Moskauer "Butyrka" kennen und in der Distanzierung von
unwürdigem Verhalten Anderer schätzen lernten. Das hat über die Zeiten und
schwierigsten Lebenslagen gehalten.
- Hans Sohn, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Karlsruhe 30.6.-1.7.2014.
Hans hatte seine Skepsis gegenüber dem "Dank des Vaterlands" früh gewonnen: als er im April 1945 als begeisterter Flieger-HJler in Pilotenbekleidung zum Häuser- "Endkampf" um Berlin eingeflogen wurde - und am Flugplatzrand die braune Bonzenschaft auf ihren Abflug harren sah. Russland lernte er in seiner kurzen sowjetischen Gefangenschaft zunächst positiv als Hilfeleistung einer russ. Ärztin für den jugendlichen verwundeten Gefangenen kennen. In der SBZ eröffnete sich ihm als jungem Nachwuchskader eine vermeintliche Karriere bei der Reichsbahn. Seine sportliche Begeisterung führte ihn beim Handball in Berlin-Hermsdorf mit seiner jetzigen Witwe Inge zusammen - aber auch mit dem Sportjournalismus im damals noch zugänglichen Westberlin.
1952 gab dann eine von KGB und StaSi angeworbene Angestellte des Bundesbeauftragten für Berlin seine Karteikarte und seinen Namen an diese Dienste weiter. Hans wurde an seinem Hochzeitstag verhaftet. Die Nachfrage der verzweifelten Braut nach seinem Verbleib wurde so zynisch wie typisch mit dem verletzenden Worten abgetan: "er habe sich ja doch wohl eine Andere gesucht!" Seine Verhörer nutzten gezielte Schläge für Nierenblutung - und liessen ihn andere russische Seiten, als die Ärztin 1945 erkennen. Ein Wachmann in Brest, Zwischenstation auf dem Transport zur Urteilsvollstreckung in Moskau, riet ihm nächstenliebend von jeglichem Versuch ab, sich am möglichen Ende gegen den Vollzug des Todesurteils körperlich noch wehren zu wollen - das verschlimmere das Unausweichliche nur.
Dann, unter Workutas weitem Himmel, seinem Sternenmeer und seinen Nordlichtflammen, liess er mir seine Liebe für und seine Sorge um seine Frau Inge lebendig werden - und hat mir zudem (bis heute lebendig) seine tiefe und ihn lebenslang tragende Begeisterung fürs Fliegen verständlich gemacht.
Hans hat dann in unserem "Schacht 9/10" den Rat eines erfahrenen Mitgefangenen zu nutzen verstanden und sich gezielt Respekt verschafft: wohldurchdacht wurde er zum Schein gegen seine Antreiber gewaltsam. Das brachte ihm in der Lagerobigkeit den Ruf eines "Unverbesserlichen", in der untergründigen Lagerhierarchie Respekt und später die Absonderung im Lagerkomplex "Suchobeswodnoje" ein - wo Hans zum festen Kern der Streikenden gehörte. Er begegnete auch hier - so wie dann auch lebenslang unter besseren Bedingungen - selbst schwierigsten Belastungen mit unverbrüchlicher Lebensfreude und -mut. Damit vermochte er auch uns, seine Gefährten, zu stärken und unseren Durchhaltewillen zu festigen. Beispielgebend wurde nun an seinem Lebensende seine Willensstärke gegenüber dem schließlichen Siechtum und im Sterben. Dann aber besiegte der Tod seinen Körper noch vor seinem sich beugenden Willen.
Nach unserer Heimkehr 1955 war ihm neuerlich der enttäuschende sogenannte "Dank des Vaterlands" widerfahren, als die seinerzeit mit dem Bundesbeauftragten für Berlin geschlossenen Vereinbarungen für eine berufliche Gleichstellung im Notfall einer beruflichen Positionierung im Westen dann doch nichts mehr galten. Umso entschlossener hat "Hänschen" Sohn sein Eheverprechen eingehalten, das er im Januar 1956 alsbald eingelöst hat, und das seither für ihn zum tragenden Element seines Lebens wurde.
Hans Sohn hat beispielhaft Kameradschaft bezeugt: insbesondere im Kreis der Schicksalsgefährten - unter den organisierten wie unter denen, die ihm dann auch zu freundschaftlichen Lebensbegleitern wurden. Und er hat in wiederholten Vorträgen vor seinen Eisenbahner-Berufskollegen und an Schulen dem Vergessen, Verharmlosen und Hintantstellen der Sowjet-Repression und deren Opfergängen entgegengewirkt. In seiner Funktion als Sprecher und Vertrauensmann der Seniorenvereinigung ehemaliger Eisenbahner-Gewerkschafter ist er überzeugt und erfolgreich seinem Leitspruch gefolgt: "Gemeinsam sind wir stark"!
Im Kreis der Lagergemeinschaft war er ein von allen uneingeschränkt angesehener und wegen seiner natürlichen Kameradschaftlichkeit beliebter Gefährte. Klar und schnörkellos wenn es um Beschlussfassungen ging und hilfsbereit, wenn es um Mitgefühl und Zutun ging.
Vor allem aber hat er seiner persönlichen "Wiedergutmachung" gelebt: für seine Frau, seine Familie, seine Nächsten. Sie waren ihm das Zentrum seiner Lebenskreise.
Es gibt keinen besseren Nachruf auf ihn, als das Lied vom "Guten Kameraden"!
...schließenEintrag vom 14.4.2019 HORST SCHÜLER IST TOT
Am 27. März 2019 verstarb der langjährige Vorsitzende der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion Horst Schüler im Alter von 94 Jahren in Hamburg.
Ein Nachruf von Stefan Krikowski
Diese Augen. Wer in diese Augen geschaut hat, spürt, dass sie weit mehr gesehen haben als einem Menschen zuzumuten ist. Über viele Jahre hatte Horst Schüler in die Abgründe des Gulags geblickt. Durch ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT) war er am 5. März 1952 im berüchtigten KGB-Gefängnis in der Potsdamer Lindenstraße zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Workuta verurteilt worden. Die engsten Familienangehörige und seine Ehefrau wussten nichts über seinen Verbleib. Über viele Jahre war er einfach spurlos verschwunden.
- Horst Schüler, Universität Leipzig, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Leipzig 20.-21. Mai 2007.
Zu einer Zeit, als es Menschen gab, die freiwillig von Hamburg in die DDR zogen, war er froh, überhaupt nach Hamburg ziehen zu können, zusammen mit seiner Ehefrau Ingrid, die all die Jahre trotz Ungewissheit über seine Inhaftierung auf ihn gewartet hatte. Hamburg bedeutete für die noch junge Familie Freiheit. Eine Freiheit, die oft auch schmerzte, denn zu seinen bittersten Erfahrungen gehörte, dass in der Freiheit die Wenigsten von seinen Erfahrungen im Gulag hören wollten.
Geboren am 16. August 1924 in Potsdam-Babelsberg, wurde er als Kind Zeuge, wie die Nationalsozialisten seinen Vater Fritz Schüler, Sozialdemokrat und Gewerkschafter, drangsalierten, verfolgten, schließlich am 3. März 1942 letztmalig verhafteten und in das Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Lindenstraße brachten. Von dort wurde Fritz Schüler in das KZ Sachsenhausen deportiert, wo er am 5. Dezember 1942 starb.
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Horst Schüler als Journalist bei der Zeitung "Märkische Volksstimme" in Potsdam, in der er unter dem Pseudonym "Kiekeohr" u.a. die Versorgungsmissstände in der DDR kritisierte. Als er sich weigerte, als Spitzel für den sowjetischen Geheimdienst zu arbeiten, wurde er am 4. November 1951 verhaftet und – bittere Ironie der Geschichte – ebenfalls in die Potsdamer Lindenstraße gebracht, die diesmal der sowjetischen Besatzungsmacht als Untersuchungsgefängnis diente. Vor zehn Jahren hatte er hier seinen von den Nationalsozialisten verhafteten Vater besucht. Sein Vertrauen darauf, dass man ihm als anerkanntem Opfer des Faschismus (OdF) nichts anhaben könne, hatte sich als Trugschluss erwiesen.
Nach Monaten der Schläge, Folter und nächtelangen Verhöre wurde Horst Schüler schließlich am 5. März 1952 durch ein Sowjetisches Militärtribunal nach dem Gummiparagraphen 58 des russischen Strafgesetzbuches wegen "Spionage" zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Bis zu seiner vorzeitigen Freilassung Ende 1955 verbüßte er diese Strafe im berüchtigten Straflager Workuta. Mit seinen über 40 Straflagern und dazugehörenden Kohleschächten war Workuta einer der härtesten Gulag-Komplexe im sowjetischen Lagersystem. Als Arbeitssklave des 29. Kohleschachtes (Lager 10) nahm Horst Schüler im Juli 1953 aktiv am Aufstand gegen die Arbeits- und Haftbedingungen teil. Dieser wurde am 1. August 1953 blutig niedergeschlagen: 64 Tote und über 123 zum Teil schwer Verletzte waren zu beklagen.
Kann ein Mensch nach einer solchen Gewalt- und Ohnmachtserfahrung wieder heimisch werden? Augenscheinlich führte Horst Schüler mit seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern in Hamburg eine ganz normale bürgerliche Existenz. In der Hansestadt setzte er erfolgreich seine Arbeit als Journalist fort und wurde leitender Redakteur beim „Hamburger Abendblatt“.
Wie sehr Workuta den seelischen Klangraum Horst Schülers verändert hatte, davon zeugt eine Passage aus seinem Buch "Workuta – Erinnerung ohne Angst". Hierin setzt er sich mit dem Unverständnis der Nachgeborenen auseinander: "Natürlich könnt ihr nicht ahnen, wie sehr diese Zeit im Lager unsere Seelen deformiert hat. Wie sollt ihr begreifen, daß wir zusammenschrecken beim Anblick eines verrotteten Stacheldrahtzauns. Daß der Hochstand eines Jägers uns unweigerlich an einen Wachturm erinnert? Daß wir bei einem sorgsam geharkten Weg an die verbotene Zone rings um das Lager denken, die niemand betreten durfte, es sei denn, er suchte den schnellen Tod. Daß wir uns innerlich dagegen auflehnen, wenn ihr leichthin vom Hunger sprecht, ohne überhaupt ahnen zu können, was Hunger wirklich aus Menschen machen kann. Und wenn wir beim Klang eines Hammerschlags auf Eisen zusammenfahren, wie sollt ihr es wissen? Selbst dieses harmlose Geräusch bringt uns zurück in die Welt der Lager. Mit Schlägen auf dem Stück Eisenbahnschiene nämlich, das am Tor hing, wurden die Häftlinge geweckt, wurden sie zur Arbeit befohlen, zur Zählung, zum Appell."
Nach seinem Eintritt in den Ruhestand, der zusammenfiel mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der DDR, reiste Horst Schüler 1992 als erster deutscher Journalist in die damals noch gesperrte Stadt Workuta. 1995 gründete er die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion. So konnte er den jährlichen Treffen der ehemaligen Gulag-Häftlinge eine offizielle Organisationsform bieten. Den UOKG-Vorsitz hatte er von 2001 bis 2007 inne.
- Horst Schüler, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Berlin 8.-10. Juni 2017.
Horst Schüler war er ein geschätzter Interviewpartner. Er war ruhig und sachlich und musste nicht laut werden, um als Autorität wahrgenommen zu werden. Gerade in schwierigen Zeiten verstand er es wie kein anderer, Konflikte zu entschärfen, zu integrieren und zu vermitteln.
Dass Horst Schüler Journalist mit Leib und Seele war, lässt sich im Mitteilungsblatt der UOKG „Der Stacheldraht“ nachlesen. Hierfür schrieb er regelmäßig die Editorials und äußerte sich auch zu aktuellen Themen. Seine Tätigkeit blieb jedoch nicht nur auf die UOKG beschränkt. Bis zuletzt hat Horst Schüler seine Stimme erhoben, so z. B. in der Auseinandersetzung um das 2013 von Wolfgang Benz herausgegebene Buch "Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung".
Horst Schüler musste erleben, wie nachhaltig das Gift der Zersetzung, das die SED mit ihren Schergen so reichlich versprüht hatte, wirkte. Keine 30 Jahre nach dem Mauerfall nehmen die politischen Anfeindungen, die die Kritiker des Kommunismus in eine rechtsradikale Ecke zu stellen versuchen, an Heftigkeit zu. Horst Schüler bezog auch hier Position und wandte sich z. B. gegen die unbotmäßige Entlassung von Dr. Hubertus Knabe, dem Direktor der Berliner Gedenkstätte Hohenschönhausen. Nachdem dieser Stützpunkt für den antitotalitären Konsens mit allen – auch medialen – Mitteln geschliffen worden war, wurden die Stimmen, die eine andere Erzählung der DDR-Geschichtsschreibung fordern, immer lauter. Ein vorläufig negativer Höhepunkt in der Umdeutung der DDR-Geschichte war die sog. Fachtagung in den Räumen der Amadeu Antonio Stiftung im Februar 2019 zum Thema „Der rechte Rand der DDR-Aufarbeitung“. Nahezu unwidersprochen wurde der ehemalige UOKG-Vorsitzende Gerhard Finn, Jahrgang 1930, in die Nähe von NS-Tätern gerückt.
Schon längst von schwerer Krankheit gezeichnet, kämpfte Horst Schüler weiterhin gegen die Verklärung und Verharmlosung der Verbrechen des Kommunismus. Er suchte den Dialog mit dem politischen Gegner, blieb immer sachlich und höflich, argumentierte hart in der Sache und nahm sein Gegenüber mit. Er wollte seine Gegner überzeugen, ohne sie zu diffamieren. Ihm war es ein Anliegen, die Opfer beider Diktaturen zu würdigen und ihren Anliegen gerecht zu werden.
Nun ist Horst Schüler am 27. März 2019 im Alter von 94 Jahren in Hamburg gestorben. Er erlag seinem Krebsleiden. Mit ihm verlieren wir eine unverwechselbare Stimme. Einer der letzten Zeugen des Gulags hat uns verlassen. Horst, wir vermissen dich und verneigen uns vor dir.
...schließenEintrag vom 24.3.2019 BUCHVORSTELLUNG
"Diese Zeilen sind mein ganzes Leben..."
Annähernd 900 Briefe aus dem Gulag, geschrieben von 96 Gefangenen, hat Meinhard Stark über die Jahre gesammelt oder in Archiven in Russland, Polen, Litauen und Deutschland ausfindig gemacht. Der Briefwechsel zwischen Häftlingen und ihren Angehörigen ist durch lange Abstände zwischen geschriebenen und empfangenen Briefen geprägt, von aufreibendem Warten und emotionalen Wechselstimmungen, aber auch von strengen Haftinstruktionen und einer unerbittlichen Zensur.
Stellvertretend für die 96 Gefangenen kommen 18 Mitgefangenen mit ihren Lagerbotschaften eingehend zu Wort; unter ihnen fünf Litauerinnen und Litauer, fünf Deutsche, vier Russinnen und Russen, eine Polin, ein Pole sowie eine Georgierin und ein Ukrainer.
Meinhard Stark: "Die weitgehend unveröffentlichten Briefe der sieben Frauen und elf Männer wählte ich aus, weil sie ganz verschiedene Aspekte ihrer persönlichen Erfahrungswelt wie ihres mentalen Befindens hinter dem Stacheldraht widerspiegeln, aber auch Einblicke in ihre Erlebnisse mit der Lagerpost gestatten. Welche große emotionale Bedeutung das Schreiben für diese Gefangenen und ihre Angehörigen hatte, zeigt nicht zuletzt, dass diese unter schwierigsten Bedingungen des Fortbestehens einer staatlichen Diktatur in der Sowjetunion und anderen östlichen Staaten über Jahrzehnte aufbewahrt und behütet wurden."
"Daher gilt mein tiefster Dank vor allem jenen, die mir Briefe und Aufzeichnungen von sich selbst, ihren Nächsten oder anderen ehemaligen Gulag-Häftlingen zur Verfügung gestellt haben. Dies sind Hans Günter Aurich, Edith Bader, Dietmar Bockel, Philipp Heimbuch, Horst-A. Hennig, Dr. Horst Hennig, Dr. Natalie Kromm, Linas Ladiga, Herta Lahne, Dr. Finbarr McLoughlin, Felix Patrunow, Helmut Poschmann, Tatjana Ruge, Walter Scharfenberg, Dr. Hans Schafranek, Elke Scholz, Horst Schüler, Prof. Alexander Vatlin, Till und Götz Wendt, Ina Lehmann-Wendt, Jutta Williams-Wendt, Ernst-Friedrich Wirth und Horst Wöhe. Mit großer Verehrung erinnere ich mich jener Frauen und Männern, die leider verstorben sind; so Irina Alferowa, Theodor Baumgärtner, Ulrich Büttner, Anna Etterer-Schwarzmüller, Heinrich Fichtner, Alexander Heimbuch, Karl Keller, Erna Kolbe, Helena Kutscherowa-Koch, Frieda Mayer-Melikowa, Johannes Oesterhelt und seine Frau Ruth, Ursula Rumin, Antonie Satzger, Adele Schiffmann und Arthur Weilert. Mehr als ein Drittel der vorliegenden Briefe stammt aus den Händen dieser Menschen. Darüber hinaus haben mir zahlreiche ehemalige Gulag-Häftlinge von ihren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Lagerbriefen erzählt oder in ihren Erinnerungen darüber geschrieben. Auch diesen Frauen und Männern bin ich außerordentlich dankbar."
Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
"Diese Zeilen sind mein ganzes Leben..." Briefe aus dem Gulag Buchvorstellung, Lesung und Zeitzeugengespräch
Wer: Veranstalter Metropol-Verlag
Wann: Mittwoch, 3. April 2019, 18 Uhr
Wo: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Kronenstraße 5, 10117 Berlin
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/veranstaltungen-2019-6978.html?id=3446/
Eintrag vom 13.3.2019 11. BELTER-DIALOGE
Die Konrad-Adenauer-Stiftung lädt zu den 11. Belter-Dialogen am Donnerstag, den 11. April 2019 ein.
Im Ausland gilt die deutsche Erinnerungskultur als Erfolgsgeschichte und Vorbild. Innerhalb des Landes aber ist sie immer öfter Gegenstand von Unbehagen und Kritik.
Die 11. Belter-Dialoge widmen sich deshalb der Frage, die immer wichtiger wird: "Was wollen wir erinnern?" Und wie tun wir das?
Häufig wurde die Geschichte zu verschiedenen Zwecken verklärt oder benutzt. Doch was bedeutet eine solche Instrumentalisierung in heutigen Zeiten, in denen wir den Anspruch einer objektiven Darstellung der Geschichte haben? Kann es überhaupt einen neutralen Blick auf Vergangenes geben? Und wer ist dafür verantwortlich, was wie erinnert wird?
Die Belter-Dialoge betrachten immer im besonderen Maße Widerstand und Zivilcourage in der SBZ und der DDR. Wie kann die richtige Darstellung eines Staates gelingen, der so unterschiedlich wahrgenommen wurde? Und welche Bedeutung wird dem damaligen Widerstand gegen das DDR-System eingeräumt?
Sie sind herzlich eingeladen, darüber mit den Referenten zu diskutieren!
Dr. Joachim Klose
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. für den Freistaat Sachsen
Programm
Veranstaltungsort: Universität Leipzig, Alter Senatssaal, Rektoratsgebäude, Ritterstraße 26, 04109 Leipzig.
16:00 Uhr |
Begrüßung |
16:05 Uhr |
Wem gehört die Erinnerung? Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik |
Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Universität Passau |
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17:15 Uhr |
Wer trägt die Verantwortung für Erinnerung? Zur Instrumentalisierung von Erinnerungskultur |
Prof. Dr. em. Eckhard Jesse, Universität Chemnitz |
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18:00 Uhr |
Imbiss |
19:00 Uhr |
Natonek, Belter, Ihmels - Vergessene Opfer? Zum Umgang mit der DDR-Erinnerung |
Dr. Hubertus Knabe, Ehemaliger Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen |
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anschließend |
Diskussion mit den Referenten |
20:30 Uhr |
Empfang |
Anmeldung
Der Besuch der Veranstaltung ist kostenfrei. Bitte melden Sie sich für die Veranstaltung an. Sie erhalten keine separate Anmeldebestätigung.
E-Mail: kas-sachsen@kas.de
http://www.kas.de/sachsen/de/events/76772/
Über Herbert Belter
Geboren am 21. Dezember 1929 in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern), wohnte Herbert Belter zuletzt in Leipzig (Sachsen), wo er ab 1949 an der Gesellschafswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Leipzig studierte. Seit Mai 1950 hatte Belter gemeinsam mit einem Kommilitonen Kontakt zum RIAS. Von dort bezogen sie regelmäßig Broschüren und Flugblätter. Elf Tage vor der Wahl zur Volkskammer verteilte eine Studentengruppe um Belter nachts am 4. Oktober 1950 in der Leipziger Innenstadt Flugblätter gegen das SED-Regime. Bei einer Straßenkontrolle wurde sie verhaftet und am 9. Oktober 1950 an die russischen Besatzungsorgane übergeben. Das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48420 verurteilte Belter am 20. Januar 1951 in Dresden wegen Spionage, Aufbau einer konterrevolutionären Gruppe und Verbreitung antisowjetischer Literatur zum Tode durch Erschießen. Herbert Belter wurde am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet.
Eintrag vom 3.3.2019 DER BLICK NACH RECHTS
Hubertus Knabe über die lange Tradition, Kritiker des Kommunismus als "rechtsradikal" zu diskreditieren.
https://hubertus-knabe.de/der-blick-nach-rechts/
Eintrag vom 3.2.2019 HELMUT TISCH IST TOT
Am 30. Januar 2019 verstarb im Alter von 87 Jahren Helmut Tisch.
Ein Nachruf von Frieder Wirth
Am 30. Januar 2019 verstarb unser Kamerad Helmut Tisch.
Helmut wurde in Altenburg, Thüringen geboren. Die Schulzeit verbrachte er in Meuselwitz - und hier gehörte er zu einer kleinen Widerstandsgruppe von Jugendlichen. 1952 wurde Helmut- zusammen mit fünf weiteren Gruppenmitgliedern - verhaftet und nach drei Monaten Untersuchungshaft im KGB-Gefängnis Leistikowstr./ Potsdam zu 25 Jahren Straflager verurteilt.
- Helmut Tisch, Universität Leipzig, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Leipzig 20.-21. Mai 2007.
Im Dezember 1954 wurde Helmut, zusammen mit anderen deutschen Häftlingen, nach Suchobeswodnoje verlagert und von dort in die DDR entlassen.
Hier forderte er zusammen mit einigen anderen Rückkehrern die sofortige Weiterleitung in die BRD. Nach einem mehrstündigen Nervenkrieg mit Organen der DDR wurde der Forderung schließlich stattgegeben und die Gruppe durfte nach Friedland ausreisen. Helmut wählte Hamburg als neue Heimat.
Er machte in einem großen Elektrokonzern eine Ausbildung als Elektrotechniker. Im Laufe seines Arbeitslebens war er weltweit zur Montage und Wartung von Elektroaggregaten unterwegs.
1996 wurde Helmut durch die Generalstatsanwaltschaft der russischen Föderation rehabilitiert.
Nach langer Krankheit, die mit vielen Schmerzen verbunden war, ist Helmut im Krankenhaus eingeschlafen. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern trauern um ihn seine Freunde, mit denen er bis zuletzt engen Kontakt hatte. Frieder Wirth
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Eintrag vom 18.1.2019 GÜNTHER ESCHRICHT IST TOT
Am 1. Dezember 2018 verstarb im Alter von 95 Jahren Günther Eschricht.
Ein Nachruf von Wilhelm K.H. Schmidt
Das Leben des Oberamtsrates Günther Eschricht hat sich vollendet. Er starb am 1. Dezember 2018 im Seniorenheim des Evangelischen Johannesstiftes Sunpark Berlin-Neukölln im Alter von 95 Jahren. Günther Eschricht war ein Lagerkamerad der Gefangenen aus dem Workuta-Komplex, die wie er in die Hände der sowjetischen Geheimdienste geraten waren, er wurde auf der Grundlage russischer Gesetze nach 1990 einschränkungslos rehabilitiert.
- Günther Eschricht, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetuntion in Dresden 12.-13. Mai 2010.
Meine Recherchen über unsere Heimatstadt Dahme führten zu einer Gruppe von meist jungen Männern, die wenige Jahre nach Kriegsende abgeholt worden waren. Ich nahm Kontakt mit Günther Eschrichts Familie in Berlin auf. Kurz vor meinem Besuch hatten sich dort zwei lange vermisste Audio-Kassetten wieder angefunden, auf denen man Günther Eschrichts Leben nachhören konnte. Das war ein Glücksfall für die Familie und für mich als "Historiker aus Leidenschaft".
"Hallo, hier spricht der Opa", leitet Günther das Diktat für seine amerikanischen Enkel ein. Er berichtet ganz neutral, ohne Pathos, ohne Hass und Häme über sein Leben vom Kriegsende an. Denunziert, am 20. August 1949 abgeholt, am 13. Februar 1950 vom Sowjetischen Militärtribunal in der Potsdamer Lindenstraße wegen angeblicher Spionage und Gruppenbildung zu 25 Jahren Arbeits- und Straflager mit verschärften Bedingungen - "Stalins Norm" - verurteilt. Dann folgten seine Lagererlebnisse bis zu seiner Entlassung im Oktober 1955 in die DDR, die Flucht der Familie schon Weihnachten des gleichen Jahres nach dem Westen und sein dortiger Neuanfang. Vier lange Jahre hatte seine junge Familie nicht gewusst, ob er noch unter den Lebenden war. Nach anfänglichem Abraumkarren im Bergbau bei sibirischer Kälte war Günther Eschrichts nächste Station das Lager 10, Schacht 29, der berüchtigte Schacht, der im Sommer 1953 zum Ausgangspunkt eines blutig niedergeschlagenen Aufstandes der Häftlinge wurde.
- Günther Eschricht, kurz vor der Entlassung, Swertlowsk 1955. Foto: Archiv Familie Eschricht. Als ein E-Lok-Fahrer für Flach-Loks, die aus den USA stammten, gesucht wurde, zeigte er Interesse. Auf einem unterirdisch verlegten Gleisnetz wurden Kohle und Abraum auf 40 bis 50 an die Lok angekoppelten Waggons transportiert. Allerdings war das Lokfahren nicht ohne Risiko. Kurz vor Weihnachten 1954 erlitt Günther Eschricht einen schweren Arbeitsunfall. Ein entgegenkommender Zug beachtete Eschrichts Vorfahrt nicht und kollidierte mit seinem Zug. Dabei wurde sein rechter Unterschenkel zerschmettert. "Nach langwierigem Heilungsprozess lief Günther Eschricht noch aufrechter als zuvor, allerdings mit einem merkwürdigen Gang, der an die Haltung älterer Offiziere aus vergangenen preußischen Perioden erinnerte. So haben wir ihn 'geadelt' und nannten ihn fortan Graf Eschricht", schrieb sein langjähriger Lagerkamerad und Freund Heini Fritsche.
Am 5. Dezember 1955 begann mit einem der letzten Transporte Günther Eschrichts Heimfahrt. Drei Wochen später, direkt zu Weihnachten, war er endlich wieder zu Hause in Dahme.
Es bleibt, Günther Eschrichts langes erfülltes Leben zu würdigen. Alle folgenden Jahre nach seiner Zeit im Lager waren glückliche gemeinsame Jahre mit der in den USA lebenden Familie. In seinen letzten Lebensjahren allein, ohne die fürsorgliche Liebe seiner Ehefrau Liesbeth, hatte Tochter Ilona für seine Geborgenheit im Alter liebevoll vorgesorgt, dankbar für das Vertrauen auf den Schutz seines Lebensweges bis zu seinem friedlichen Hinübergleiten in die Ewigkeit.
Wilhelm K.H. Schmidt
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