Aktuelles
Eintrag vom 14.12.2020 INGOLF GROTHE IST TOT
Am 7. Dezember 2020 verstarb Ingolf Grothe im Alter von 89 Jahren in Berlin.
Ein Nachruf von Stefan Krikowski
Ihm sei es im Winter und im Frühling nicht gut gegangen, antwortete Ingolf Grothe halb entschuldigend am Telefon auf die Frage, weswegen er sich erst jetzt am 23. Juli 2013, 10 Monate nach der Anfrage melde. Ein Treffen zu vereinbaren, gestaltet sich unkompliziert. Wir treffen uns schon vier Tage später in seinem Haus in Berlin-Lichtenrade. Den Fragebogen für die Webseite der Lagergemeinschaft hat er gut leserlich, knapp aber präzise ausgefüllt. Seine Ehefrau Gerda hat Kaffee gemacht und Kuchen gebacken. Ich kenne Ingolf vom Sehen her seit vielen Jahren von den Jahrestagungen der Lagergemeinschaft, zu denen er immer gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Arnold kam.
Draußen auf der Terrasse erzählt Ingolf in nüchternen, trockenen Sätzen seine Geschichte von der Verhaftung, der Zwangsarbeit, seiner Rückkehr nach Baruth und von seiner Flucht nach West-Berlin. Und dann erzählt er, dass er aus Workuta noch einen Koffer hat, den er für die Heimführung 1955 erhalten hatte. Aus dem Keller holen? Ach, da sei doch die Weihnachtsverzierung drin. Und überhaupt, so interessant sei der Koffer doch nicht. Aber Gerda blieb keine Wahl, sie musste in den Keller und den Koffer holen. Was würde dieser Koffer erzählen, wenn er könnte? Ingolf lässt sich überreden, dass ich von ihm und seinem Koffer ein Foto mache. So viel Aufmerksamkeit macht ihn ein wenig verlegen. Aber er ist geduldig und beantwortet alle neugierigen Fragen. Und so wird die Biografie von Ingolf Grothe als 36. und letzte vor der Veröffentlichung von workuta.de aufgenommen.
Beim Abschiednehmen erzählt Ingolf noch, dass er seine Geschichte aufgeschrieben habe. Immer, wenn er nachts Zeit hatte, habe er während der Sportturniere geschrieben. Und so wurde auch sein Bericht unter der Überschrift „Einmal Hölle und zurück“ in seine Biografie aufgenommen. Es ist eine Geschichte von Mut, Daffke und Begegnungen auch mit aufrichtigen Menschen.
- Ingolf Grothe, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, Berlin, 2017.
Seinen 85. Geburtstag hat er groß gefeiert, dabei wurde auch das Tanzbein geschwungen. Die ganze Familie war anwesend. Auch seine Schwestern, die noch immer in Baruth (Brandenburg) leben. Der familiäre Zusammenhalt war ihm wichtig.
Dieser Zusammenhalt hatte ihm einst das Leben gerettet. Er wurde am 27. Juni 1951 in Baruth verhaftet, am selben Tag wie sein Zwillingsbruder. Gemeinsam wurden sie am 24. Oktober 1951 im „Roter Ochse“ von einem Sowjetischen Militärtribunal zur Zwangsarbeit in einem sogenannten Arbeitsbesserungslager verurteilt und nach Workuta verschleppt. Als der Lageraufseher in Workuta die beiden Brüder trennen wollte, behauptete Ingolf frech, dass es in der Sowjetunion ein Gesetz gäbe, wonach es verboten sei, Zwillinge zu trennen. So blieben sie bis zur Entlassung immer zusammen. Als es seinem Bruder Arnold im Lager mal so richtig dreckig ging, hat er ihm ordentlich die Leviten gelesen, und dafür gesorgt, dass sein Überlebenswille wieder geweckt wurde.
Über die Zeit im Lager hat Ingolf nicht viel gesprochen. In seinen Memoiren steht lediglich "Die Arbeit unter Tage war sehr, sehr schwer und extrem gefährlich." Aber auch "Brot ist eine Währung, das kann sich keiner vorstellen. Dafür hat man alles bekommen."
2018 feierten Gerda und Ingolf Grothe ihre diamantene Hochzeit. Aber da ging es dem Ehepaar gesundheitlich nicht mehr so gut. Dennoch haben es sich die beiden nicht nehmen lassen, zu "ihrem Lied" (Blue Spanish Eyes) ein letztes Mal zu tanzen.
Gerda und Ingolf Grothe haben nahezu an allen Jahrestagungen der Lagergemeinschaft teilgenommen, auch an denen in "seinem" Knast in Halle. Zur letzten Jahrestagung im Mai 2019, die in Königswinter am Grab von Konrad Adenauer abgeschlossen wurde, konnten sie leider nicht mehr kommen.
Ingolf Grothe verstarb am 7. Dezember im Alter von 89 Jahren in Berlin.
...schließenEintrag vom 12.12.2020 ALMANACH "GULag und Gedächtnis"
Am Tag der Menschenrechte stellte die Landesbeauftragte für MV für die Aufarbeitung der SED- Diktatur Anne Drescher die neue Fachzeitschrift "GULag und Gedächtnis" vor, ein Almanach zu kommunistischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR.
"Im Schwurgerichtssaal des Schweriner Landgerichts verurteilte ein Sowjetisches Militärtribunal 1945 bis 1955 zahlreiche unschuldige Menschen zum Tode oder zu langen Haftstrafen", sagte die Landesbeauftragte Anne Drescher und Herausgeberin. Über die Todesurteile und die etwa 35.000 verurteilten deutschen Zivilisten, die in sowjetischen Lagern inhaftiert waren, sei nach wie vor viel zu wenig bekannt.
"Die Zeitschrift soll mit ihren Beiträgen über die kommunistische Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der DDR und im Zwangsarbeitslagersystem des GULag informieren. Zugleich bietet der jährlich erscheinende Almanach auch den in der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion organisierten Betroffenen und Angehörigen ein Forum, zumal deren Jahrestreffen altersbedingt nicht mehr stattfinden können", erklärte Mitredakteurin Edda Ahrberg.
"Nach dem Umbruch 1990 wandten sich Menschen an unsere Beratung, die nach den langen Jahren verordneten Schweigens endlich über ihre schlimmen Erfahrungen in den sowjetischen Lagern reden wollten. Für viele konnten Rehabilitierungen und Entschädigungen erreicht werden. Anderen Familien gelang es erst jetzt, das Schicksal ihrer von der sowjetischen Geheimpolizei verschleppten Angehörigen und deren Todesumstände zu klären", berichtete Anne Drescher.
Die Redakteurinnen der Zeitschrift Edda Ahrberg und Anne Drescher erläuterten das Anliegen der Zeitschrift: Der Almanach wird sich bei der historischen Aufarbeitung dieser Epoche auch mit Opposition und Widerstand, der Geschichte des GULags in der Sowjetunion sowie den aktuellen Entwicklungen in der Erinnerungspolitik der Russischen Föderation befassen. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen sollen auch Biografien, Lebenserinnerungen, Dokumente, Rezensionen und Konferenzberichte veröffentlicht werden. Die Publikation wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.
Online bestellt werden kann die Zeitschrift unter
https://www.landesbeauftragter.de/publikationen/aktuelle-publikationen/
Die Zeitschrift ist auch erhältlich in der Geschäftsstelle der Landesbeauftragten
Tel.: 0385-734006, Fax: 0385-734007, Mail: post@lamv.mv-regierung.de.
Aus dem Inhalt von "GULag und Gedächtnis" 1-2020
AUFSÄTZE/WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE
Dr. Irina Scherbakowa: GULag – Geschichte und Aufarbeitung
ERINNERUNGSLANDSCHAFT
Edda Ahrberg: "Aber die Erinnerungen bleiben". Die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion
Dr. Wilhelm Mensing: "Das Gedenken ist eine der Grundlagen menschlicher Kultur"
Dr. André Gursky: Ein Holzkoffer und ein Stück Kohle aus Workuta. Brücken der Erinnerung
AUTOBIOGRAFISCHES/LAGERALLTAG
Heini Fritsche: Heimkehr nach Deutschland 1955
AKTUELLES
Aus der Forschung
Anne Drescher: Die "Gruppe Kunert"
Blick nach Russland
Dr. Anna Kaminsky: Das Schweigen brechen – vielfältige Erinnerungen. Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in der Russischen Föderation
Berichte zur Aufarbeitung
Dr. Nikolai Ivanov, Dr. Anke Giesen: Die "letzte Adresse" in Deutschland
Bernd Böhlich: "Und der Zukunft zugewandt" – von der Idee zum Film
Rezensionen
Werner Schulz zu: Andreas Petersen: Die Moskauer
Dr. Gerald Diesener zu: Horst Hennig und Gerald Wiemers (Hrsg.): Sigurd Binski – ein Kritiker der Diktaturen. Erinnerungen und Dokumente / Freiheit in Verantwortung. Sigurd Binskis Beiträge zur Zeitgeschichte
Das besondere Dokument
Beschluss des Rates der Volkskommissare am 5. September 1918 über den "Roten Terror"
PRESSESPIEGEL
https://www.sueddeutsche.de/wissen/geschichte-schwerin-neue-zeitschrift-zu-russisch-kommunistischer-verfolgung-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201210-99-642084
https://schwerin-lokal.de/schwerin-neue-zeitschrift-gulag-und-gedaechtnis/
https://www.rtl.de/cms/neue-zeitschrift-zu-russisch-kommunistischer-verfolgung-4666023.html
Eintrag vom 9.12.2020 RICHARD SCHMIDT IST TOT
Am 3. November 2020 verstarb Hermann Richard Schmidt im Alter von 92 Jahren in Jesteburg.
Ein Nachruf von Carl-Michael Schmidt
- Richard Schmidt, 1976 in Jesteburg.
Dort besuchte er ab 1934 die Volksschule und ab 1938 die Oberschule für Jungen, das frühere Reform-Realgymnasium bis Ende Januar 1945. Im Februar 1945 wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und im April 1945 zur Wehrmacht.Die Einheiten mit Soldaten unter 18 Jahren wurden von Dresden nach Teplitz in der Tschechoslowakei verlegt.
Das Kriegsende erlebt er in Teplitz und wurde dort auch gefangen genommen. Da die Soldaten schlecht ausgerüstet waren, trug er unter der Uniform seine Jungvolkhose und ein Sporthemd. Gefangengehalten wurden die Jungen auf einem Bauernhof. Die Wachsoldaten feierten den Sieg über Nazi-Deutschland und waren betrunken. Dies nutzte Richard, zog die Uniform aus und flüchtet zu Fuß nach Annaberg zu seiner Cousine Sigrid.
Dort erfuhr er, dass sein Vater vermisst, sein Bruder wahrscheinlich in russischer Gefangenschaft, die Wohnung ausgebombt und seine Mutter fast blind, aber auch in Annaberg war. Vom August 1945 bis zum Juli 1947 absolvierte er in Chemnitz eine Konditorlehre und erhielt den Gesellenbrief.
Ab September 1947 war er als Praktikant in einem Kabarett-Restaurant tätig. Dort wurde er Ende Januar 1948 von Beamten der K5 (Vorgängerorganisation der Stasi) verhaftet und kurz darauf der SMAD übergeben.
Im September 1948 wurde er wegen Spionage zum Tode verurteilt, dann aber zu 10 Jahren Zwangsarbeit begnadigt.
Richard Schmidt wurde über verschiedene Straflager und letztendlich im Straflagerbezirk Potma, Lager Nr. 385 in der Mordwinischen Sowjetrepublik gebracht.
Nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 in Moskau und Aufnahme der diplomatischen Beziehung zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR wurde er zusammen mit zehntausend anderen Häftlingen freigelassen. Richard weigerte sich im Lager Fürstenwalde entlassen zu werden und wurde mit einigen Kameraden am 12. Oktober 1955 nach West-Berlin abgeschoben. Im Dezember 1955 ist er von West-Berlin mit der Bahn nach Bremen gebracht worden.
Er entschied sich gegen ein Studium zum Beruf des Lehrers und für die Ausbildung zum Großhandelskaufmann bei der Deutschen Shell. Die Ausbildung absolvierte er in Hannover. Es begann ein sehr abwechslungsreiches und interessantes Berufsleben. Seine Reise ging weiter von Minden nach Bielefeld, Meckelfeld, Germering und wieder zurück nach Hamburg / Jesteburg. 1988 ist er als leitender Angestellter nach 32 Dienstjahren pensioniert worden.
Im Februar 1956 wurde Richard Schmidt vom Deutschen Roten Kreuz in den Winterurlaub nach Mittenwald zur Erholung geschickt. Dort lernte er seine zukünftige Ehefrau Brigitte Michler kennen, die er am 23. August 1958 kirchlich heiratete.
Richard Schmidt wurde Vater von 3 Kindern, Carl-Michael (1959), Beate (1961) und Reinhard (1963). Nach seiner Pensionierung engagierte er sich in seinem alten Hobby dem Sport als Trainer und Kampfrichter beim VfL Jesteburg. Hier wurde er quasi zur Vereinslegende als aktiver Sportler, Kampfrichter und insbesondere als Zuständiger für die Abnahme des deutschen Sportabzeichens.
Seine Kinder zog er liebevoll groß und hatte immer ein Ohr für große und kleine Probleme. Viele gemeinsame Urlaube mit Wandern und insbesondere Skifahren in den Bergen hat er seiner Familie ermöglicht.
Schwimmen und Leichtathletik hat er regelmäßig (mehrfach die Woche) mit seinen Kindern Zeit seines Lebens betrieben.
In seinem letzten Lebensabschnitt, wenige Wochen vor seinem Tode bekam er noch Besuch von seinem ersten Urenkel.
Friedlich starb er am 3. November 2020 zu Hause im Kreise seiner Familie ein.
Sehr wichtig war ihm, dass er durch die Generalstaatsanwaltschaft der russischen Föderation im Februar 1996 rehabilitiert wurde. Nach Akteneinsicht 2004 hatte er erfahren, dass er verhaftet wurde, weil er als Fähnleinführer der faschistischen Organisation Jungvolk angehört hatte.
Richard Schmidt hat seine Familie über alles geliebt. Er sorgte sich um alle und seine Liebe wirkt über seinen Tod hinaus.
Seine größte Liebe galt seiner über alles geliebten Ehefrau Gitta.
...schließenEintrag vom 14.11.2020 PETER EBERLE IST TOT
Am 1. November 2020 verstarb Peter Eberle kurz vor Vollendung seines 91. Lebensjahrs in Linthal (Schweiz).
Ein Nachruf von Peer Lange
- Peter Eberle während des Jahrestreffens der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion 2007 in der Universität Leipzig.
Von diesem Verantwortungsbewusstein getragen war auch sein berufliches Ethos. Er war als namhafter Zahnarzt weit über die Grenzen seines Wohnorts Linthal im Kanton Glarus bekannt. So wie schon sein Vater der Zahnmedizin diente, so taten und tun es auch seine Frau, sein Sohn und seine Tochter! Ebenso überzeugend verantwortlich und einsatzwillig hat er auch sein Ehe- und Familienleben bestimmt - insbesondere dann, wenn es Gefahren abzuwenden galt! Aber es zeigte sich darüber hinaus auch in seinem Willen, familiäres Kulturerbe, wie das großelterliche Haus in Arnstadt/Thüringen dem DDR-Verfall zu entreißen und mit erheblicher finanzieller Eigenlast den "blühenden Landschaften" der neuen Länder einzufügen!
Peter musste seine letzten Lebensjahre gegen so lebensgefährliche wie dann auch schmerzhafte Erkrankungen angehen. Er ist ihnen willensstark und zäh entgegengetreten - so, wie es uns auch von manch Anderem von uns vor Augen geführt worden ist! Wir dürfen ihm ein ehrenvolles Gedenken danken!
...schließenEintrag vom 12.11.2020 EHRUNG
Bundesverdienstorden an Stefan Krikowski verliehen
Der Protokollchef des Landes Berlin, Dr. Andreas Zimmer, hat am 11. November 2020 im Auftrag des Bundespräsidenten Herrn Stefan Krikowski die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreicht.
Stefan Krikowski setzt sich ehrenamtlich für den Zusammenhalt der ehemaligen politischen Gefangenen in den sowjetischen „Schweigelagern“ ein. Workuta im nördlichen Ural war eines der größten und unmenschlichsten Zwangsarbeiterlager für politisch Verfolgte und Kriegsgefangene in der Sowjetunion und Hauptzielort für deutsche Gefangene in der Nachkriegszeit. Sein Vater war jahrelang als politischer Gefangener in der Sowjetunion inhaftiert.
Der Ausgezeichnete leistet seit vielen Jahren kontinuierliche Dokumentationsarbeit zur Erfassung der noch lebenden Zeitzeugen, die sich in ihrem letzten Lebensabschnitt befinden. Damit die Arbeit der Häftlingsgruppen und ihr Anliegen – Erzählen ihrer Lebensgeschichte und Kampf dem Vergessen – weiterverfolgt werden kann, bemüht er sich auch Kinder und Enkel der ehemaligen politischen Strafgefangenen, die sogenannte Folgegeneration, zu erreichen, zu aktivieren und für die gemeinsame Erinnerungsarbeit zu begeistern. Darüber hinaus bietet Herr Krikowski auch Schulen und anderen Bildungseinrichtungen seine Zusammenarbeit an und trägt bei Nachfrage selbst vor. Das Engagement von Herrn Krikowski, die Biografien der Opfer vor dem Vergessen zu bewahren, verdient die Auszeichnung mit der Verdienstmedaille.
https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.1016293.php
Copyright Fotos: Thomas Platow
...schließenEintrag vom 7.11.2020 THEODOR DESENS IST TOT
Am 29. Oktober 2020 verstarb Theodor Desens im Alter von 90 Jahren in Gummersbach.
Ein Nachruf von Dr. Gerald Joram und von Joachim Desens
Theodor Desens wurde am 13. April 1930 im Kreis Stolp in Pommern (heute zu Polen gehörend) geboren. Dort hatte die Familie Desens über viele Generationen auf einem eigenen Hof Landwirtschaft betrieben. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges erfolgte die Zwangsumsiedlung aller Deutschen. Dadurch verlor die Familie Desens im Jahr 1947 ihren Bauernhof, der bis dahin ihre Lebensgrundlage gebildet hatte.
- Theodor Desens während des Jahrestreffens der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion 2018 in der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam.
Nach dem Besuch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau wurde Theodor Desens im Oktober 1955 aus der Haft entlassen und kam am 16. Oktober 1955 in Rüdersdorf (Landkreis Oder-Spree) an. Von dort ging er zunächst zurück zu seinen Eltern, die weiterhin in Möllensee lebten. Am 16. November 1955 fuhr er mit der S-Bahn nach West-Berlin, von wo er dann in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte. Dort begab er sich nach Gummersbach, wo bereits ein Jugendfreund aus seiner Schulzeit wohnte.
In Gummersbach lernte Theodor Desens am 7. April 1956 seine Ehefrau Christel kennen, die er am 5. Oktober 1957 heiratete. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor, die in den Jahren 1958, 1960 und 1962 geboren wurden.
In den Jahren 1956 bis 1958 erlernte Theodor Desens – seinem Wunsch entsprechend – den Beruf des Betriebsschlossers. In den Jahren 1962 und 1963 erbaute er ein Haus, das er bis zu seinem Tode bewohnt hat. Nach Fertigstellung des Hauses siedelten seine Eltern aus der DDR in die Bundesrepublik über und wohnten bis zu ihrem Tode in der oberen Etage des von ihrem Sohn erbauten Hauses.
Später bildete sich Theodor Desens im Rahmen eines Fernstudiums zum Techniker weiter. Im Jahr 1971 erhielt er daraufhin einen Arbeitsplatz als Technischer Angestellter, auf dem er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1991 tätig war.
Prägend für sein Leben waren die Erfahrung der Zwangsumsiedlung im Jahr 1947 und der damit verbundene Verlust der Lebensgrundlage. Deshalb war es ihm wichtig, für sich selbst und für seine drei Kinder eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen. So begleitete er seine Kinder über die Erlangung des Abiturs bis hin zum erfolgreichen Universitätsabschluss, so dass seine Kinder heute in ihren Fachgebieten als Oberstaatsanwalt, als Diplom-Kaufmann und als Ärztin tätig sind. Die Kinder sprechen ihm dazu ihren besonderen Dank aus.
...schließenEintrag vom 1.11.2020 BUCHREZENSION
Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben
Hermann Flade - Eine Biographie - Von Karin König.
Ein Rezension von Jörg Bilke
Das grausame Schicksal des 18jährigen Oberschülers Hermann Flade (1932-1980) aus Olbernhau im Erzgebirge, der am 10. Januar 1951 vom Landgericht Dresden zum Tode verurteilt wurde, hat die Öffentlichkeit in Westdeutschland mehr als ein Jahrzehnt beschäftigt. Ohne das anhaltende Entsetzen über dieses unerhört harte Urteil wäre es am 29. Januar nicht zum Revisionsprozess gekommen und zur Verhängung einer Zeitstrafe von 15 Jahren.
Der am 7. Oktober 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone gegründete Staat, der sich selbstherrlich "Deutsche Demokratische Republik" nannte, war, da ihm, bis zum Untergang am 9. November 1989, jegliche demokratische Legitimation fehlte, ununterbrochen darauf bedacht, mit allen Mitteln seine Herrschaft nach innen und außen abzusichern. Dazu gehörten das politische Strafrecht, das Redefreiheit, Reisefreiheit und Streiks verbot, die "parteiliche" Strafjustiz, die unmenschlich hohe Strafen für "politische Verbrechen" auswarf, und dazu gehörte auch die Ermordung Hunderter von DDR-Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze.
Hermann Josef Flade, unehelich geboren am 22. März 1932 in Würzburg, war ein unerbittlicher Gegner der neuen Ordnung! Er wuchs seit 1936 in Olbernhau auf, wohin Mutter und Stiefvater mit ihm gezogen waren. Dort besuchte er seit 1938 die Volksschule und nach dem Krieg die Goethe-Oberschule. Für den 15. Oktober 1950 waren die ersten Wahlen seit Staatsgründung für die "Volkskammer", das DDR-Parlament in Ostberlin, angesetzt. Hermann Flade, der diese Wahlen aus demokratischer Überzeugung ablehnte, hatte mit einem Stempelkasten aus der Kinderzeit Flugblätter gedruckt und sie am 14. Oktober, dem Vorabend der "Volkswahlen", in Hausbriefkästen gesteckt. Dabei wurde er von zwei "Volkspolizisten" in Zivil, die als Liebespaar getarnt waren, gestellt. Er zog sein bereits aufgeklapptes Taschenmesser und stach dem "Volkspolizisten", der sich auf ihn gestürzt hatte, in den Rücken. Danach floh er.
Am nächsten Morgen, dem Wahlsonntag, besuchte er mit seiner Freundin den katholischen Gottesdienst und ging mit ihr zum Wahllokal im Ballhaus "Tivoli". Am Nachmittag des 15. Oktober wurde er verhaftet und in Handschellen abgeführt. Die Gerichtsverhandlung am 10. Januar 1951 war als Schauprozess inszeniert, der Saal war brechend voll, die Verhandlung wurde über Lautsprecher nach draußen übertragen. Um 16.30 Uhr wurde Hermann Flade zur "Strafe des Todes kostenpflichtig verurteilt".
Was Karin König mit ihrem lesenswerten Buch versucht hat, ist eine Rekonstruktion des ersten DDR-Jahrzehnts und der politischen Umstände 1950/51, die zur Verurteilung Hermann Flades führten. Bereits 1998 hatte sie in der "Frankfurter Rundschau" in einem Essay das Thema aufgegriffen und danach Briefe einstiger Mithäftlinge Hermann Flades im Zuchthaus Waldheim wie Achim Beyers (1932-2009) und Lisa Flades, der in Siegburg/Rheinland lebenden Witwe, erhalten. Von ihr bekam Karin König damals auch die Telefonnummer Lena Reuters in Olbernhau, der einstigen Sekretärin des Bürgermeisters, die zur schier unerschöpflichen Quelle wurde.
Die Autorin ist bei ihrer Recherche äußerst umsichtig und zielstrebig vorgegangen. Die Archivreisen nach Berlin, Bonn, München und Mainz und nicht zuletzt ins Erzgebirge werden zeitaufwendig und kostspielig gewesen sein. Das Literaturverzeichnis lässt erkennen, dass Karin König keine Mühe gescheut hat, aus Haftberichten wie dem von Hermann Flade selbst (1963) wie auch aus denen von Eva Müthel (1957) und Walter Kempowski (1969) die Atmosphäre in den DDR-Zuchthäusern der fünfziger Jahre zu erfassen. Selbst Andrea Feths Buch über Hilde Benjamin (1997) und Wolf Biermanns Autobiografie (2016) wurden hier einbezogen. Was die "Volkswahlen" von 1950 betrifft, so gelang es ihr sogar, einen Kommentar der 17jährigen Brigitte Reimann (1933-1973) in einem Brief an eine westdeutsche Freundin ausfindig zu machen.
Das kaum hoch genug einzuschätzende Verdienst von Karin Königs Buch ist es, den Lebensweg Hermann Flades nach der Haftentlassung weiterverfolgt zu haben. Fast alle Haftberichte, sofern sie nicht in Autobiografien eingebettet sind, enden mit dem ersten Atemzug in der Freiheit. Von allen Bemühungen seiner westdeutschen Freunde, den Waldheimer Häftling durch Proteste und Eingaben freizubekommen, hat er nichts erfahren. Andererseits war seine widerwillig und lustlos eingegangene Verpflichtung zur Mitarbeit bei der Staatssicherheit, die er mutig im seinem Haftbuch zugegeben hat, der westdeutschen Öffentlichkeit nicht bekannt.
Am Montag, 28. November 1960, wurde Hermann Flade nach mehr als zehn Jahren aus dem Zuchthaus entlassen und kam bei Verwandten in Flöha, unweit seiner Heimatstadt Olbernhau gelegen, unter. Ein gültiger DDR-Pass wurde ihm aber von der Abteilung Inneres des Rates des Kreises verweigert, er bekam nur einen Behelfsausweis, mit dem er nicht reisen durfte. Erst nach einem Beschwerdebrief seiner Eltern an Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann wurde ihm eine Reise von drei Wochen über Weihnachten zu seinen Eltern in Traunstein/Oberbayern zugestanden. Am 10. Dezember 1960, dem "Tag der Menschenrechte", traf er mit dem Interzonenzug nach Mitternacht im oberfränkischen Hof ein, wo ihn seine Eltern und ein Schwarm von Journalisten erwarteten, die ihn mit Fragen bedrängten. Abgesandte der Illustrierten "Stern" entführten dann noch in der Nacht Hermann Flade und seine Eltern nach Hamburg, wo ihn die Journalistin Eva Müthel (1926-1980), die selbst sechs Jahre in DDR-Gefängnissen verbracht hatte, zu einem Exklusiv-Interview erwartete, dessen erste Folge noch vor Weihnachten, am 21. Dezember, erschien.
Später holte er das Abitur nach, nahm ein Studium in München auf, wechselte nach Mainz und wurde dort 1967 im Fach Politikwissenschaft promoviert. Er heiratete, wurde Vater dreier Töchter und Referatsleiter im "Gesamtdeutschen Institut" in Bonn. Während der zwei Jahrzehnte, die er nach der Haftentlassung noch zu leben hatte, stand er unter ständiger Beobachtung des Ostberliner "Ministeriums für Staatssicherheit". Völlig überraschend verstarb er am 16. Mai 1980 mit nur 48 Jahren.
Jörg Bernhard Bilke
Karin König "Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben", Lukas-Verlag, Berlin 2020, 200, 19,89 Euro.
https://www.lukasverlag.com/suche.html?searchword=hermann%20flade&searchphrase=exact
Weitere Angaben zur Biographie Hermann Flades finden Sie hier:
https://www.jugendopposition.de/themen/145426/hermann-joseph-flade
Eintrag vom 31.10.2020 GEDENKTAG
Seit 1991 wird jedes Jahr am 29. Oktober, am Vorabend des in Russland offiziellen Gedenktages für die Opfer politischer Verfolgung, in vielen russischen Städten die Namen derer gelesen, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden.
Auf Initiative von Memorial Deutschland fand nun zeitgleich am Berliner Steinplatz vor dem Denkmal für die Opfer des Stalinismus erstmalig eine Namenslesung der aus Berlin und Brandenburg stammenden Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft statt. Von den 923 Zivilisten aus Deutschland, die zwischen 1950 und 1953 von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) in der SBZ und DDR zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort erschossen wurden, kamen 241 Personen aus Berlin und Brandenburg. Die Opfer haben kein individuelles Grab, sie wurden heimlich erschossen und ihre Asche auf dem Moskauer Friedhof Donskoje verscharrt. Die meisten Opfer wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert.
Mit der Lesung der Namen wird ihrer gedacht, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Die Namen sind festgehalten im Totenbuch „Erschossen in Moskau …“, dass im November in der 4. Auflage erscheint.
Die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion hat sich der Initiative gerne angeschlossen und neben Memorial Deutschland, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einen Kranz am Mahnmal abgelegt.
Joachim Desens verlas die Namen der vier Mithäftlinge, die mit seinem Vater Theodor Desens am 25. Juni 1951 im NKWD Gefängnis in der Potsdamer Lindenstraße durch ein SMT verurteilt wurden. Theodor Desens wurde zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, er kam in die Strafregion Workuta.
Die Mitangeklagten Harry Ewald geboren am 22. Juli 1929 in Jähnsdorf/Kreis Crossen, Günter Rah, geboren am 18. Juli 1925 in Rheinsberg, und die Gebrüder Gerhard, geboren am 31. Juli 1929 in Rüdersdorf und Max Strötzel wurden zum Tode verurteilt. Max Strötzel brach nach dem Urteil zusammen und verstarb später in einer Haftanstalt der DDR. Die drei anderen zum Tode Verurteilten wurden am 15. Oktober 1951 in Moskau hingerichtet. Sie wurden am 10. November 1996 posthum rehabilitiert.
Stefan Krikowski verlas folgende Namen:
Reinhard Gnettner, geboren am 26. Juni 1897 in Görlitz. Er wurde nach einem Gottesdienst in Fürstenberg (Eisenhüttenstadt) vor den Augen seiner Frau und zwei Kindern verhaftet, im NKWD-Gefängnis in der Lindenstraße in Potsdam am 4. April 1951 zum Tode verurteilt und am 27. Juni 1951 in Moskau hingerichtet. Seine jüngste Tochter hat erst im Rahmen der überarbeiteten Gedenktafel für ihren Vater, die 2017 am ehemaligen Pfarrhaus in Fürstenberg angebracht wurde, über das Schicksal ihres Vaters erfahren.
Wolfgang Kreyßig, geboren am 23. Juni 1926 in Chemnitz. Zusammen mit seiner frisch verheirateten Ehefrau Elfriede Kreyßig wurde er am 21. November 1951 im Gefängnis Roter Ochse in Halle/Saale verurteilt. Wolfgang Kreyßig wurde am 26. März 1952 in Moskau hingerichtet. Elfriede Kreyßig kam nach Workuta. Sie schrieb nach ihrer Haftentlassung: "Mein Leben nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft in einem inzwischen eingemeindeten Ortsteil von Chemnitz, in dem ich heute noch lebe, widmete ich ganz meinen Eltern. Immer mit dem Gedanken, wenn mein Mann, dem ich in einem günstigen Moment nach dem Tribunal mein Versprechen geben konnte: 'Ich werde auf dich warten, ganz gleich, wie lange es dauert', zurückkommen sollte, würde ich ihm die Entscheidung überlassen, wo wir unser gemeinsames Leben fortsetzen. Erst ein von mir als endgültig betrachtetes Schreiben des DRK-Suchdienstes München vom 1. Dezember 1993 gab mir die Gewissheit vom Tod meines Mannes am 26. März 1952. Eine Todeserklärung in den Jahren zuvor kam für mich nicht infrage."
Herbert Belter, geboren am 21. Dezember 1929, Student an der Universität Leipzig. In einem Gruppenprozeß mit zehn Personen wurde Herbert Belter am 20. Januar 1951 in Dresden zum Tode durch Erschießen verurteilt. Er wurde am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet. Auch er wurde von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert. Seine mit ihm angeklagten Freunde, die alle 25 Jahre Haftstrafe erhielten und bis 1955 in Workuta Zwangsarbeit leisten mussten, u.a. Werner Gumpel, haben sich immer dafür eingesetzt, dass das Andenken an Herbert Belter lebendig bleibt. So findet seit 2008 jährlich die Belter-Tagung organisiert durch die Konrad-Adenauer Stiftung in Leipzig statt.
Helmut Sonnenschein las den Namen seines Vaters Helmut Sonnenschein, geboren am 28. Mai 1906 in Leipzig. Er wurde am 26. April 1951 in Berlin-Lichtenberg zum Tode durch Erschießen verurteilt und am 4. Juli 1951 in Moskau erschossen. Am 17. Juli dieses Jahres wurde eine Gedenktafel „Letzte Adresse“ zu seinem Gedenken an seiner letzten Wohnadresse in Naumburg angebracht.
Es war ein würdevoller Abend am Steinplatz in Berlin mit ca. 50 Teilnehmern. In einem Nachgespräch mit Frau Dr. Anke Giesen und Frau Christina Riek (beide Mitglied im Vorstand von MEMORIAL Deutschland) meinten sie, dass im nächsten Jahr dieser Gedenktag wieder am Steinplatz fortgeführt wird.
Eintrag vom 23.8.2020 JAKOB GOLDSCHEID
Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus
Als Mahnung an den am 23. August 1939 geschlossenen "Hitler-Stalin-Pakt" (oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt) wird jährlich der "Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" begangen. Der Tag zum Hitler-Stalin-Pakt soll an alle Opfer von totalitären europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert erinnern und wurde durch die Prager Erklärung, die unter anderem von Vaclav Havel unterzeichnet wurde, 2008 angeregt und am 2. April 2009 vom Europäischen Parlament verabschiedet. In diesem Jahr gedenkt die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion Jakob Goldscheid (1910-2010), der zwei Diktaturen überlebte.
Jakob Goldscheid (1910-2010)
Das Leben des Jakob Goldscheid war aufregend, der Lebenslauf gebrochen, sein Dasein oft genug gefährdet. Grenzverschiebungen ließen kaum ein Heimat- oder Nationalgefühl aufkommen. Dem Glauben der Väter blieb er desto enger verbunden. Die Fakten sind im Telegrammstil wiedergegeben. Wie es in ihm ausgesehen haben mag, wissen wir nicht. Zu seiner Umgebung war er stets freundlich, hilfsbereit und heiter. Erst im letzen Jahrzehnt scheint der überaus kluge Mann die Ruhe gefunden zu haben, die ihm seine Heimat nicht geben konnte.
Geboren am 3. August 1910 in Bessarabien, ein Landstrich zwischen den Völkern und inmitten der Völker. Sein Geburtsdorf Wertuschan am Fluss Dnister (Dnjestr) gelegen, gehörte zu Russland, zur UdSSR, zur Moldauischen Sowjetrepublik, nach 1919 zu Rumänien, schließlich ab 1940 wieder zu UdSSR und dann endgültig zu Moldawien. Seine Eltern jüdischen Glaubens Joil Goldscheid (1860-1930) und Boba (†1915) arbeiteten in Wertuschan als Bauern und hatten acht Kinder: Tila, Nahum, Josef, Baruch, Isaac, Rachel, Jakob und Awner.[1] Die Mutter starb, als Jakob fünf Jahre alt war. Sein Vater hat wieder geheiratet. Die zweite Frau hat ein Kind in die Ehe mitgebracht. Gemeinsame Kinder gab es nicht. Sein jüngster Bruder Awner ist mit 24 Jahren Opfer des "Großen Terrors" von Stalin und seines Geheimdienstchefs Nikolai I. Jeschows geworden.
Für den begabten Jakob wurde alles getan, um ihn eine hohe Schulbildung zu ermöglichen. Er wuchs zweisprachig auf (Jiddisch, Rumänisch), besuchte ab 1915 die jüdische Religionsschule, 1919 die Volksschule und schließlich ab 1925 das jüdische Gymnasium "Davidstern" in Kischinov. Zu dieser Zeit beherrschte er fünf Sprachen: neben Jiddisch und Rumänisch auch Hebräisch, Deutsch und Französisch. Ausgestattet mit einem Visum konnte er sich 1928 am Agrarwissenschaftlichen Institut der Universität Toulouse einschreiben. Er reiste zusammen mit seiner Schwester nach Frankreich.[2]. Allerdings studierte er kaum, sondern arbeitete in einem Chemiebetrieb. Die äußeren Umstände zwangen ihn dann, eine Stelle als Schriftsetzer in der Druckerei "Drapeau Rouge" in Paris anzunehmen, in der die kommunistische Zeitung verlegt wurde. Als sein Visum abgelaufen war, kehrte er 1932 nach Rumänien zurück.
Goldscheid leistete seinen zweijährigen Wehrdienst in der rumänischen Armee. Anschließend unterrichtete er als Lehrer für Mathematik und Französisch in der nordrumänischen Universitätsstadt Jassy. Nach der Besetzung Bessarabiens durch die "Rote Armee" war er kurze Zeit Redakteur einer Zeitung in Soroka, nahe der Grenze zur Ukraine. Hier heiratete er seine Frau Eva (1921-1986). Mit Kriegsausbruch 1941 floh Goldscheid in das südliche Zentralrussland, in das Gebiet (Oblast) Tambow. Im Oblast Orlowskaja geriet er in ein Arbeits-Bataillon und wurde als Baumwollpflücker nach Taschkent geschickt. Nur ein Jahr später, 1943, unterrichtete er als Deutschlehrer in Kasansai, Oblast Namangan (Usbekistan) und ein Jahr darauf wurde er als Regiments-Dolmetscher zur Roten Armee eingezogen. Am 9. Februar 1945 geriet er als "Rotarmist" in deutsche Gefangenschaft und wurde am 5. Mai von der amerikanischen Armee befreit. Nur wenige Monate später wurde er als Dolmetscher für Englisch eingesetzt, ehe er wieder bei der Roten Armee in Wien als Dolmetscher arbeitete. Schließlich wurde er demobilisiert und kehrte nach Soroka in Moldavien zurück. Hier unterrichtete er fünf Jahre Russisch und Französisch. Sein Sohn Ilja [3] wurde 1947 in Soroli geboren. 1951, im Zuge einer Massenverhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst MGB, wurde er festgenommen und wegen "zionistischer Umtriebe" [4], dem sowjetischen Antisemitismus geschuldet, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Der sowjetische Geheimdienst verschleppte ihn in das nördlich vom Polarkreis gelegene Workuta. Dort arbeitete er in dem berüchtigten Straflager Nr. 10, Schacht 29. 1953 wurde er unmittelbar Zeuge des Aufstandes der Gefangenen aus mehr als 20 Ländern gegen ein unmenschliches System. Sie streikten gegen die unrechtmäßige Behandlung und für bessere Lebensbedingungen.
Am 31. Juli/1. August 1953 schossen Truppen des Innenministeriums auf die wehrlosen, ausgehungerten Gefangenen. 62 wurden getötet und 136 verletzt. Unter den Schwerverletzten befand sich der deutsche Gefangene Bernhard Schulz (*1926-+2016). Durch eine Schussverletzung wurde er arbeitsunfähig. "Ich erhielt weniger Lebensmittel" , schrieb Bernhard Schulz rückblickend 2001, "was sich auf meinen gesundheitlichen Allgemeinzustand lebensbedrohlich auswirkte. In diesem Zustand bekam ich Beistand und lebenswichtige Nahrungsmittelzuwendungen von meinem russischen Mithäftling jüdischen Glaubens, dem Sprachlehrer Jakob Goldscheid." [5] Ähnlich äußerte sich der deutsche Häftling Heini Fritsche, der eine lebensgefährliche Verwundung erlitt. "Im Lagerhospital war ich längere Zeit bettlägerig, wurde aber auf Betreiben des Politoffiziers des Lagers 10 in nicht ausgeheiltem Zustand zurück ins Bergwerk geschickt. Meine allmähliche Gesundung verdanke ich der tätigen Hilfe des russischen Mithäftlings jüdischen Glaubens Jakob Goldscheid, indem er für bessere Ernährung sorgte."[6]
Im Juli 1956, lange nach Stalins Tod, wurde Jakob Goldscheid aus dem Straflager Nr. 10, Schacht 29, aus Workuta entlassen. Eine Rehabilitierung durch die russischen Behörden erfolgte nicht. In Lwow, früher Lemberg, erhielt er eine Anstellung als Englischlehrer. Aber schon nach kurzer Zeit wurde er, trotz des XX. Parteitages der KPdSU, als "Workuta-Sträfling" entlassen. Goldscheid nahm dann eine Stelle im Innenministerium als Lehrer in einer Strafanstalt für Jugendliche an. 1978 trat er in den Ruhestand und zehn Jahre später wanderte nach Israel aus. Dort traf und heiratete er bald eine alte Bekannte.[7] Einmal jährlich war er zu Besuch in die Bundesrepublik gereist. In Bochum hatte er seinen Sohn besucht, der an der dortigen Universität als Dozent Mathematik lehrte.
- Heini Fritsche, Jakob Goldscheid, Horst Henning (v.l.n.r.), Bonn, 1989. Foto: Nachlass Bernhard Schulz
Anlässlich seines 100. Geburtstages erinnerte die Lagergemeinschaft Workuta in einem Schreiben an die Toten und Verwundeten des Aufstandes von 1953 in Workuta: "Sie setzten ihr Leben gegen eine unmenschliche Diktatur ein, für Freiheit, Recht, Menschlichkeit und gegen ein verbrecherisches kommunistisches Regime."
Jakob Goldscheid gehörte zu den Aufrechten, zu den Humanisten in einer dunklen Zeit. Seine Schwester Rahel wurde mit ihrer Familie Opfer des Holocaust und sein Bruder Awner kam im GULag um. Er hat beide Diktaturen glücklich überstanden und starb am 26. Oktober2010 in Ganey Tikva in Israel.
Von Horst Hennig und Gerald Wiemers
[1] Tila (1894-1966, UdSSR), Nahum (*1896, USA), Josef (*1899, USA), Baruch (* 1901, USA), Isaac (*1904, USA), Rachel (1908-1942 [?], KZ Auschwitz [?]), Jakob (1910-2010), Awner (1913-1937, ermordet in der UdSSR während des Stalinschen Terrors).
[2] Jakob Goldsteins Schwester kehrte nach Bessarabien zurück und erkrankte an Tbc, erholte sich , heiratete und bekam zwei Kinder. Ihre ganze Familie ist während des Krieges 1942 (?) im Holocaust im Todeslager Auschwitz (?) umgebracht worden.
[3] Prof. Dr. Ilya Goldsheid lebt in London und lehrt Mathematik an der Queen Mary University of London.
[4] Heini Fritsche an Gerald Wiemers, Bonn, 3. Jan. 2011
[5] Bernhard Schulz, Vaihingen, an Dr. Horst Hennig, 17. April 2001
[6] Heini Fritsche, Bonn, an Dr. Horst Hennig, 15. April 2001
[7] Seine zweite Frau Karina Shvartzman (1912-2007) lernte er bereits in Paris, im Rekrutierungsbüro für die Internationalen Roten Brigaden für den spanischen Bürgerkrieg kennen. Sie war damals Mitte zwanzig. Nach ihrer kommunistischen Vergangenheit in der Zeit der Perestroika befragt, meinte sie: "War man jung, war man dumm". Richtig kennengelernt hat er sie und die befreundete Familie Shvartzman erst 1956 in Lwow. Sie war viele Jahre verwitwet, als sie 1988 in Israel geheiratet haben.
Der Artikel erschien zuerst 2010 auf der Webseite des Bundes Widerstand und Verfolgung https://www.bwv-bayern.org/component/content/article/3-suchergebnis/116-jakob-goldscheid-1910-2010-ueberlebte-zwei-diktaturen.html
...schließenEintrag vom 1.8.2020 1. AUGUST: WORKUTA-GEDENKTAG
Im Gedenken an die Opfer der Niederschlagung des Aufstandes vom 1. August 1953 in Workuta.
In der Reihe der Aufstände gegen kommunistische Unterdrückung und Willkür gehört auch der hierzulande wenig bekannte Aufstand in Workuta. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kam es in der DDR am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand. Selbst in der nord-östlichsten Stadt Europas, im 4.300 Km entfernten Workuta, keimte nach dem Tod des Diktators Hoffnung auf. Dort legten die Arbeitssklaven die Arbeit nieder. Im GULag. Aber wie in der DDR vorher wurde auch der Aufstand in Workuta blutig niedergeschlagen - am 1. August 1953. 64 GULag-Häftlinge wurden von schwer bewaffneten MWD-Truppen erschossen; 53 ihrer Opfer sind namentlich bekannt. Der Chronist der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, Dr. Horst Hennig, der am 21. Mai 2020 im Alter von 93 Jahren verstarb, hat für eine Gedenkfahrt nach Workuta im Sommer 2003 folgenden Erinnerungsbericht geschrieben:
Das Regime-Lager Nr. 10 des Schachtes 29
Das Lager Nr. 10 lag etwa 15 Kilometer vom Durchgangslager entfernt. Zusammen mit einer Häftlingsgruppe erreichte ich im Januar 1951 diesen Ort der Zwangsarbeit, den ich erst im März 1955 verlassen sollte. Nach der üblichen Durchsuchung passierte ich das Tor mit der sinngemäßen Inschrift: "Ihr könnt durch Arbeit eure Schuld abtragen". Ein Gefangener trat auf mich zu: "Seid ihr Deutsche?" Im Gespräch teilte er mir mit, er stamme aus einer auf der Krim enteigneten Familie. In drei Jahren habe er sein Strafmaß von 25 Jahren erreicht und werde dann in die "freie Siedlung" außerhalb des Stacheldrahtes entlassen, vorausgesetzt er würde nicht noch einmal verurteilt, was gar nicht so selten wäre. Die Hoffnungen des Oskar Iwanowitsch Raab mussten auf mich sehr entmutigend wirken. Er half, die uns zugewiesene Baracke zu finden. Seine Hilfe war notwendig, denn alle Gebäude auf dem Gelände waren bis über das Dach eingeschneit. Eine dürftige Lichtleitung verlief auf Schornsteinhöhe zwischen den Baracken. Schließlich setzten wir uns auf eine steil abfallende Schneewand und rutschend bei 30 Grad minus krachend vor einen Barackeneingang. Eintretend bot sich uns folgendes Bild: Etwa 200 Personen hausten hier rechts- und linksseitig zusammengepfercht auf halb hohen Bretterflächen. Da die Schlafstätten der Häftlinge überbelegt waren, legten mein Transportkamerad, der Berliner Geschäftsmann Alfred Groth (1) und ich uns notgedrungen auf den Boden. Nachts kamen Ratten und Wanzen.
- Horst Hennig auf den Überresten der Küchenbaracke von Lager Nr. 10/Schacht 29 am 1. August 1995 beim Besuch anlässlich des 42. Jahrestages der Niederschlagung des Aufstandes.
Die Verpflegung war naturgemäß miserabel und völlig unzureichend. Das Wasser wurde zunächst aus dem noch nicht verschmutzten Schnee zum Trinken aufgetaut. Am Tage gab es 600 Gramm "Klitschbrot", Wassersuppe und zwei Esslöffel Hirsebrei. Fett, eiweißhaltige Nahrungsmittel und Gemüse gab es nicht. Auch die Kleidung reichte nicht für die herrschenden Kältegrade aus. Erfrierungen waren deshalb an der Tagesordnung. Verurteilte Ärzte versuchten mit ihrem Wissen, jedoch mit primitiven Mitteln zu helfen. Ihnen gebührt an dieser Stelle besonderer Dank!
Die Offiziere der Lagerverwaltung folgten der perfiden Strategie der Konzentrationslager, indem sie kriminelle Häftlinge als Helfer in "Kapo-Funktionen" einsetzten. Es ist nicht übertrieben, dass sich ehemalige kommunistische KZHäftlinge der Nazi-Zeit, von den Sowjets nach 1945 aus politischen Gründen verurteilt nach den "deutschen Verhältnissen" zurücksehnten.
Ein erheblicher Teil der Verurteilten rekrutierte sich aus intellektuellen Berufen. Es waren Universitätsprofessoren, Theologen, Lehrer, Ingenieure und Studenten aller Fakultäten. Der sozialistische Machtapparat schreckte nicht davor zurück, ganze Schulklassen zu verhaften.
In den Zwangsarbeitslagern Workutas war der überwiegende Teil der Häftlinge zu 25 Jahren verurteilt. Dadurch waren sie zu rechtlosen Politverbrechern abgestempelt und unübersehbarer Willkür ausgeliefert. Niemand hat den grausamen Lageralltag so zutreffend beschrieben wie Alexander Solschenizyn in "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Das Grauen der Lager gestaltete sich für die Gefangenen ab 1935 und in den Folgejahren noch schlimmer: zu überleben war fast unmöglich.
Nach der politischen Entscheidung Moskaus, die Kohlevorkommen in der Workuta Region abzubauen, wurden vornehmlich Zwangsarbeiter herangetrieben. Ihr mühsamer Weg führte über Wasser, Eis und unwegsamen Tundraboden. Die meisten starben erschöpft von Hunger, Krankheit und Kälte bereits auf den Transportwegen oder später vor Ort in Schneehöhlen. (Von der gefangenen Finnin Aino Kusinen, der Frau des Komintern- und Sowjetfunktionärs liegt eine der ersten deutschsprachigen Beschreibungen der Jahre 1938 bis 1946 vor: "Der Gott stürzt seine Engel", Wien 1972.)
Deutsche Kommunisten, die sich nach 1933 nur durch Flucht der Bedrohung entziehen konnten, teilen sich jetzt mit Russlanddeutschen die Friedhöfe in der Tundra, wo sie zwischen Ende 1930 und Anfang 1940 verscharrt wurden. Dem unheiligen Pakt zwischen Hitler und Stalin fielen andere zum Opfer, indem sie von der Sowjetunion an die Gestapo ausgeliefert wurden.
Auf dem Höhepunkt der "Repression" befanden sich in Workuta über 32 Schächte, 127 Gefangenenlager. 200.000 Zwangsarbeiter sollten auf dem Archipel GULag der Sowjetunion dazu verhelfen, den wirtschaftlichen Fünf-Jahresplan und mithin deren Rüstungsziele zu erfüllen. Zwangsarbeiter aus allen Weltteilen waren Mittel zu diesem Zweck; deren Schicksal und Tod waren Bestandteil dieser "Planwirtschaft".
Arbeitsverweigerung und Lagerstreik
Das geistige Potential vereint in der Gegnerschaft zum Sowjetstaat, die Ausweglosigkeit des Daseins unter den unwürdigen und rechtlosen Zwangsbedingungen des Lagers und schließlich der stärkste Antrieb eines denkenden Menschen, der Wille als freier Mensch eigenverantwortlich zu leben – all diese Faktoren begünstigten mit der Zeit die Entstehung eines passiven Widerstands.
Im Lager pflegte der Einzelne vornehmlich Kontakte zu den Landsleuten. Hier ergaben sich am ehesten Hilfsmöglichkeiten im Falle einer persönlichen Not. Darüber hinaus suchte man für geistige und kulturelle Gespräche Gleichgesinnte, deren nationale Herkunft keine Rolle spielte. Während die Arbeitslager sich zueinander in vollständiger Isolation befanden, funktionierten der Austausch und der Abgleich von Nachrichten und Erkenntnissen Iagerintern recht gut. Drei Ereignisse zeitigten auch bei den Gefangenen Workutas Wirkung: der Tod Stalins am 5. März 1953; der Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und die Verhaftung des Regierungsmitglieds und Geheimdienstchefs Berija am 26. Juli 1953. Das zunächst vorsichtige Aufbegehren der Gefangenen traf auf eine durch die Ereignisse verunsicherte Lagerverwaltung. Auch in anderen Schachtlagern zeichnete sich, wie sich später herausstellen sollte, eine ähnliche Entwicklung ab. Es kam zum Streik, der Ende Juli 1953 im Schacht 29 und dem dazugehörigen Lager Nr. 10 seinen Höhepunkt fand. Den Versprechungen des für die Strafkolonie Workuta zuständigen Generals Derewjanko schenkte man keinen Glauben mehr; zu oft hatte die Administration die Häftlinge betrogen. Konsequenterweise forderte der Sprecher des Streikkomitees deshalb Verhandlungen mit autorisierten Regierungsvertretern aus Moskau. Als Folge dieser Forderung fand am 29.-30. Juli 1953 eine geschichtsträchtige Auseinandersetzung zwischen den Häftlingen einerseits und dem Kandidaten des Zentralkomitees der KPdSU, dem stellvertretenden Minister Armeegeneral Iwan Maslennikow andererseits statt. Ort dieser Zusammenkunft war der Appellplatz des Lagers. In Anwesenheit des Generalstaatsanwaltes der Sowjetunion Rudenko wurden unsere Forderungen vorgetragen, die alle menschenwürdige Haftbedingungen und verfassungsgemäße Rechte einklagten.
Drei Hauptforderungen wurden formuliert: die Freilassung aller politischen Häftlinge, das Recht der Ausländer, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen und die Garantie der Straffreiheit für alle Streikenden. Im Verlauf der Reden und Gegenreden verlor Armeegeneral Maslennikow jegliches Ansehen als Verhandlungsführer. Ein Hauptmann der ehemaligen "Roten Armee" meldete sich zu Wort: "Herr General, ich bin in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und deshalb nach dem Krieg zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden". Die Antwort des Generals: "Für Verräter eine gerechte Strafe". Trocken entgegnete der Hauptmann: "Sie aber Herr General waren mein Befehlshaber! Sie flogen als Verantwortlicher der eingeschlossenen Truppen aus dem Kessel aus! Ich habe meine Pflicht getan, während Sie, Herr General, die Truppen im Stich gelassen haben und sich selbst in Sicherheit brachten!"
Diesen entlarvenden Dialog kommentierten Hunderte russischer Häftlingsstimmen lautstark mit groben Flüchen. General Maslennikow verließ daraufhin mit seinem Stab das Lager und bestätigte damit ungewollt den Vorwurf des Hauptmanns. Diese Reaktion verhieß nichts Gutes. Er hatte eine persönliche Niederlage erlitten. Die Geschichte gibt keine Auskunft über die Gründe, die General Maslennikow 1954 in den Selbstmord trieben.
Der Feuerbefehl
Am 1. August 1953 richtete sich ein durch Megaphon verstärkter und wiederholter Aufruf an die Häftlinge: Achtung, Achtung! Ich habe heute den Truppen den Befehl erteilt, die Arbeitsverweigerung zu beenden. Wer zur Arbeit gehen will, kann das Lager in den nächsten fünf Minuten verlassen. Die Anderen haben die Folgen selbst zu tragen. Ich wiederhole ... Ende!
Von den ca. 3.000 Häftlingen verließen etwa 20 Mann das Lager. Insbesondere die polnischen und ukrainischen Häftlinge riefen ihre Brust entblößend: "Freiheit oder Tod". Mir war klar, dass die nächsten Sekunden entscheidend sein würden. Plötzlich fiel ein Pistolenschuss, abgefeuert von einem Offizier. Ein Häftling in der vordersten Reihe brach tödlich in den Kopf getroffen zusammen. Aus der siebten Reihe heraus hechtete ich in einen neben der Lagerstraße verlaufenden flachen muldenförmigen Graben, während auch schon das Feuer aus den Maschinenwaffen einsetzte. Über mir liegend verblutete ein litauischer Jesuitenpater. Es folgte ein weiterer Feuerschlag, der noch mehr Opfer forderte. Dann wurden die Überlebenden aus dem Lager hinaus in die Tundra getrieben. Einige der Häftlinge beteten laut. Ich bemerkte mitten in diesem blutigen Getümmel uniformierte Fotografen. Auf der Lagerstraße lagen annähernd 50 Tote, über hundert zum größten Teil Schwerverwundete wälzten sich stöhnend in meinem Blickfeld. Zu mir selbst sagte ich damals laut, Hennig, sieh genau hin, vergiss es nicht!
Unter den Toten befanden sich zwei Deutsche, Wolfgang Jeschke (2) und Gerd Kirsche (3). Auch mein engster Arbeitskamerad, der österreichische Ingenieur Karl Schmid (4), war unter den Opfern. Von den 120 Verwundeten waren 12 Deutsche. Heini Fritsche (5) und Bernhard Schulz (6)waren so schwer verwundet, dass sie monatelang nicht arbeitsfähig waren und damit noch wertloser für das Lagersystem. Den sicheren Tod vor Augen war es der jüdische Mithäftling Jakob Goldscheid (7), der sie mit heimlich gesammelten Nahrungsmitteln am Leben erhielt.
Bereits in den folgenden Arbeitstagen förderte der Schacht 29 wie früher 2.400 Tonnen Kohle in 24 Stunden. Doch wurden immerhin kleine Erleichterungen im Lagerleben spürbar. Häftlinge, die die Arbeitsnorm erfüllten, erhielten eine geringfügige Arbeitsentlohnung. Allerdings wurden die Kosten der Bewachung, Verpflegung, Bekleidung und Unterkunft davon abgezogen, so dass die Auszahlungen letztlich nur auf dem Papier Bestand hatten. Die Fenstergitter der Baracken wurden entfernt und die Türen nachts nicht mehr verriegelt. Das für uns wichtigste Zugeständnis aber war, dass wir erstmals nach der Verhaftung im Dezember 1953 die Möglichkeit erhielten, mittels einer Postkarte ein Lebenszeichen nach Deutschland zu senden. Einzelne Gefangene, unter ihnen auch Deutsche, wurden abtransportiert. Auf Umwegen erreichte uns die Nachricht von deren Entlassung...
Am 23. Dezember 1953 wurde der frühere Geheimdienstchef Berija durch die russische Administration hingerichtet; der Armeegeneral Maslennikow sollte sich im Frühjahr 1954 in seinem Arbeitszimmer erschießen. In diesem Jahr fielen in Moskau Entscheidungen, die uns unbekannt bleiben mussten. So soll in dieser Zeit auch über die Aufhebung der bisherigen politischen Repressionen entschieden worden sein.
Dies betraf aber auch die Aufhebung der Lager für politische Häftlinge.
Dr. Horst Hennig
Biografien
1) Alfred Groth (*1907 - +1976) 1950 verhaftet, durch ein SMT zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, von 1951 bis 1955 Häftling in Workuta (Lager 10, Schacht 29), lebte nach seiner Haftentlassung in Berlin-Schöneberg, 1996 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau rehabilitiert.
2) Wolfgang Jeschke (*1932 – +1.8.1953 Workuta) 1950 verhaftet, 1951 durch ein SMT zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, am 1. August 1953 während des Aufstandes von MWD-Truppen erschossen, 1994 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau posthum rehabilitiert.
3) Hans-Gerd Kirsche (*1929 - +1.8.1953) 1951 nach Beschwerden über die schlechten Arbeitsbedingungen und Sicherheitstechnik bei der Wismut AG verhaftet, 1951 durch ein SMT zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Zwei seiner Kollegen wurden im Gruppenprozess zum Tode verurteilt. Am 1. August 1953 während des Aufstandes von MWD-Truppen auf der Lagerstraße des 10. Lagers erschossen, 1994 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau posthum rehabilitiert.
4) Karl Schmid (*1905 St. Lamprecht/Österreich – +1.8.1953) 1948 verhaftet, 1949 durch ein SMT zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, am 1. August 1953 während des Aufstandes von MWD-Truppenangehörigen erschossen, 1996 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau posthum rehabilitiert.
5) Heini Fritsche (*1929) 1951 in Potsdam verhaftet, am 15.1.1952 durch ein SMT in der Potsdamer Lindenstraße zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ab Mai 1952 Zwangsarbeit in Workuta, 10. Lager, 29 Schacht. Während der Niederschlagung des Aufstandes am 1. August 1953 angeschossen, überlebt schwer verletzt, 1993 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau rehabilitiert, lebt heute in Bonn.
6) Bernhard Schulz (*1926 - +2016) 1947 in Potsdam mit seiner Verlobten Edith verhaftet, 1949 durch ein SMT in Dresden zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, Zwangsarbeit im Kohleschacht 29. Während der Niederschlagung des Aufstandes am 1. August 1953 angeschossen, überlebt schwer verletzt. 1996 durch die Militärhauptstaatsanwaltschaft Moskau rehabilitiert.
7) Jakob Goldscheid (*1910 Bessarabien- +2010 Israel) 1951 wegen „zionistischer Umtriebe“ verhaftet, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach der Niederschlagung versorgte er Heini Fritsche und Bernhard Schulz heimlich mit lebenswichtigen Nahrungsmittelzuwendungen. Dazu bemerkt Heini Fritsche im April 2001: "Im Lagerhospital war ich längere Zeit bettlägerig, wurde aber auf Betreiben des Politoffiziers des Lagers 10 in nicht ausgeheilten Zustand zurück ins Bergwerk geschickt. Meine allmähliche Gesundung verdanke ich der tätigen Hilfe des russischen Mithäftlings jüdischen Glaubens Jakob Goldscheid, indem er für bessere Ernährung sorgte." 1988 nach Israel ausgewandert.
Die Toten vom Lager 10/Schacht 29, erschossen am 1. August 1953
- ANDRUSSISCHIN, Dmitri Iwanowitsch, 28 Jahre, Ukrainer
- BARNATAWITSCHUS, Awgustinas, 41 Jahre, Litauer
- BATSCHINSKI, Josif Adolfowitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- BELJAWSKI, Wassili Iwanowitsch, 27 Jahre Weißrusse
- BOTSCHEWSKI, Jaroslaw Michailowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- DMITRIK, Stach Ignatowitsch , 48 Jahre, Ukrainer
- DOWBYSCH, Wladimir Grigorjewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- DUMA, Fjodor Stepanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- FESCHTSCHUK, Miroslaw Nikolajewitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- GAWTSCHAK, Anton Lukjanowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- GERTSCHISCHIN, Michail Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- GILEZKI, Wassili Iljitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- GOWDA, Jaroslaw Wassiljewitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- GUK, Wassili Semjonowitsch, 38 Jahre, Ukrainer
- IGNATOWITSCH, Witold Antonowitsch, 24 Jahre, Pole
- JANOWITSCH, Juri Iwanowitsch, 37 Jahre, Ukrainer
- JESCHKE, Wolfgang, 21 Jahre, Deutscher
- KAJRIS, Kasis, 36 Jahre, Litauer
- KASANAS, Afanasius, 55 Jahre, Litauer
- KATAMAJ, Wladimir Wassiljewitsch, 24 Jahre, Ukrainer
- KILBAUSKAS, Atanas, 30 Jahre, Litauer
- KIRSCHE, Hans-Gerd, 24 Jahre, Deutscher
- KLASSEN, Juri Teodorowitsch, 37 Jahre, Este
- KOSTIW, Michail Wassiljewitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- KUKK, Karl Jochannessowitsch, 34 Jahre, Este
- LAJZONAS, Alfonassas, 25 Jahre, Litauer
- LEWKO, Iwan Petrowitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- LINNUK, Pjotr Jegorowitsch, 47 Jahre, Este
- LUKANJEZ, Wladimir Pawlowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- MARSCHALOK, Michail Petrowitsch, 43 Jahre, Ukrainer
- MARTINAWITSCHUS, Witolus, 24 Jahre, Litauer
- MENDRIKS, Janis Antonowitsch, 49 Jahre, Lette
- MIKOLISCHIN, Jemeljan Stepanowitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- MITROGAN, Jaroslaw Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- MILKAUSKAS, Wazlowas, 28 Jahre, Litauer
- OCHAKAS, Juri Juchanowitsch, 45 Jahre, Este
- OLCHOWITSCH, Wladimir Kondratjewitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- PANSCHTSCHENJUK, Jakow Wassiljewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- PETERSONS, Elmars, 28 Jahre, Lette
- PETRUNIW, Josif Grigorjewitsch, 33 Jahre, Ukrainer
- POWROSNIK, Konstantin Saweljewitsch, 26 Jahre, Ukrainer
- PUKIS, Josas, 23 Jahre, Litauer
- SAKOWITSCH, Wladimir Aleksandrowitsch, 44 Jahre, Pole
- SCHKODIN, Stefan Iwanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- SCHMID, Karl, 48 Jahre, Österreicher
- STRUZ, Wassili Ostafewitsch, 21 Jahre Ukrainer
- TSCHECHAWITSCHUS, Mikolas, 34 Jahre, Litauer
- TSCHEPEGI, Iwan Iwanowitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- TSCHERJOMUCHA, Stepan Potapowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- TSCHERNEZKI, Bogdan Stanislawowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- TSCHUNIS, Semjon Gawrilowitsch, 46 Jahre, Ukrainer
- WELITSCHKO, Edwardas, 24 Jahre, Litauer
- WISOZKI, Igor Wladislawowitsch, 35 Jahre, Russe
- Hedeler, Wladislaw/Hennig, Horst (Hg.):
Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipzig (Universitätsverlag) 2007. - Wiemers, Gerald (Hg):
Der Aufstand. Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29. In Zusammenarbeit mit der "Lagergemeinschaft Workuta/GULag", Leipzig (Universitätsverlag) 2013.
Auswahlliteratur
- Die ehemaligen politischen Häftlinge Horst Hennig, Dietrich Hartwig, Bernhard Schulz, Horst Maltzahn, Heini Fritsche, Erwin Jöris, Roland Bude und Günter Müller-Hellwig (v.l.n.r.) bei der Einweihung der deutschen Gedenkstätte auf dem Gräberfeld des ehemaligen 29. Schachts am 1. August 1995.
Eintrag vom 23.7.2020 "LETZTE ADRESSE"
In einer Gedenkveranstaltung wurde am Freitag, den 17. Juli 2020 zu Ehren von Dr. Helmut Sonnenschein die Gedenktafel "Letzte Adresse" an seiner letzten Wohnadresse in Naumburg angebracht.
Zwischen 1950 und 1953 wurden allein in Sachsen-Anhalt 140 Menschen durch Sowjetische Militärtribunale zum Tode verurteilt. Einer von ihnen war Dr. Helmut Sonnenschein. Nach seiner Verhaftung am 16. November 1950 musste seine Ehefrau Hildegard Sonnenschein, die zu dem Zeitpunkt im 6. Monat schwanger war, sich mit ihrer 12-jährigen Tochter Ursula und ihrem 6-jährigen Sohn Henk alleine durchschlagen. Dem Neugeborenen gab sie den Namen Helmut. Später wurde die Mutter Lehrerin an einer Schule in Naumburg und unterrichtete das Fach Chemie. Der Vater blieb trotz unzähliger Gesuche und Bittbriefe an verschiedenste Stellen und Persönlichkeiten der SED-Diktatur spurlos verschwunden. Letztendliche Gewissheit über das Schicksal von Helmut Sonnenschein erhielten seine Ehefrau und ihre drei Kinder erst durch Auskunft und Akteneinsicht in den Moskauer Archiven ab den 1990-erJahren. Helmut Sonnenschein war am 26. April 1951 von einem Sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt worden. Das Todesurteil wurde am 4. Juli 1951 im Moskauer Butyrka-Gefängnis durch Genickschuss vollstreckt. Die posthume Rehabilitierung ihres Mannes hat Frau Sonnenschein im Jahr 1994 noch erlebt. Fünf Jahre später verstarb sie. Bei der Gedenkfeier, die nun 70 Jahre nach seiner Verhaftung an seiner letzten Wohnadresse in Naumburg stattfand, waren die Söhne Henk und Helmut anwesend. Ursula Sonnenschein starb vor einigen Jahren.
Dr. Helmut Sonnenschein hielt folgende bewegende Gedenkrede und brachte anschließend die Gedenktafel über der Hausnummer des elterlichen Wohnhauses an:
"Verzeihen Sie, dass ich meine kurze Ansprache ablese. Als Wissenschaftler habe ich immer frei gesprochen, aber da ging es auch nicht um persönliche Dinge.Heute wird vor diesem Haus für unseren Vater eine Gedenktafel angebracht. Das Haus wurde von unserem Großvater Henri Sonnenschein, genannt Heinrich, gekauft und blieb in schwerer Zeit dank unserer Mutter und meines Bruders Henk im Familienbesitz. Es ist der Ort, an dem vor siebzig Jahren unser Vater, bevor er verschleppt wurde, letzte Tage und Stunden in Freiheit verbracht hat. Er wurde von deutschen Häschern hier am 16. November 1950 in einer verdeckten Aktion aus dem Haus gelockt, in ein Auto gesetzt, dem sowjetischen Militärgeheimdienst übergeben, in Hohenschönhausen verhört und gefoltert. Anschließend wurde er in der Berliner Normannenstraße von dem berüchtigten Militärtribunal 48240 verurteilt, daraufhin nach Moskau gebracht und dort, genau heute vor 69 Jahren und 13 Tagen, am 4. Juli 1951, erschossen. Seine Asche wurde, wie die aller im Jahr 1951 hingerichteten 'Volksfeinde', in einem Massengrab auf dem Donskoje Friedhof verscharrt.
Wir sind der Menschenrechtsorganisation Memorial und der Initiative 'Die Letzte Adresse' von Herzen dankbar, dass sich diese russische und inzwischen auch international tätige NGO die Aufgabe gestellt hat, der unschuldigen Opfer des Stalinismus in allen Ländern des ehemaligen sowjetischen Machtbereiches zu gedenken. Das ist nach den Ereignissen des 20. Jahrhunderts, vor allem nach den Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden, alles andere als selbstverständlich. Und so habe ich die ausgestreckte Hand sehr gern ergriffen. Leider gehört heute auch wieder Mut dazu, in der russischen Föderation an die stalinistischen Verbrechen zu erinnern.
Der Mann, dem unser Gedenken gilt, wurde von seinem Vater, Jahrgang 1866, im Geiste des 19. Jahrhunderts erzogen. Nach allem, was wir aus Briefen und Dokumenten wissen, gehörte ein unabhängiger Geist, Aufrichtigkeit und Treue zu den charakteristischen Merkmalen unsres Vaters. In einem Brief vom 14. August 1944 schrieb er an seine Frau 'Treue ist ohne Ziel, sie kann nicht schwanken, so kann das Herz nicht in der neuen Zeit, mit seiner Volksherrschaft und mit den Männern, die sie repräsentieren, mitgehen.'
Und so widerstand unser Vater auch nach der Machtergreifung Hitlers dem Antisemitismus und dem totalitären Machtanspruch des nationalsozialistischen Regimes. Die Treue zu seinen jüdischen Lehrern Professor Leon Lichtenstein und Professor Friedrich Levi, seinen jüdischen Kommilitonen Aurel Wintner und Trajan Schwarz kostete ihn die angestrebte akademische Laufbahn. In seinem Tagebuch aus dem Jahre 1944 ist zu lesen, dass das Hitlerattentat 'nicht aus niederen Motiven geschah. Es waren Hochverräter, aber keine Verbrecher, denen der Wille zur Macht allein das Motiv ihres Handelns war'. Und in dem schon erwähnten Brief vom August 1944 stand weiterhin 'Ich kann für das Deutschland in der Form des dritten Reiches, die es repräsentiert, wohl sterben, aber nicht dafür leben'.
Nach dem Krieg versuchte unser Vater 1947, wie er einmal schrieb, auf Augenhöhe mit den Sowjets, deren Soldaten er wegen ihrer Tapferkeit und Opferbereitschaft sehr schätzte, zusammen zu arbeiten. Zunächst in einem sowjetischen Forschungsinstitut in Berlin-Karlshorst, später, nach dessen Auflösung in den Leunawerken und der Agfa in Wolfen, beides sowjetische Aktiengesellschaften.
Doch die Wirklichkeit, erst in der SBZ und nach 1949 in der frisch gegründeten DDR, desillusionierte ihn zunehmend. Seinem in Westdeutschland lebenden Freund Fritz Wolf, der unseren Vater mit dem für die Heilung seiner TBC nötigen Penicillin versorgt hatte, schrieb er in einem Brief 'Heute sollten alle parteilosen Werktätigen ihr Vertrauen zur SED durch Unterschrift bezeugen, ich habe es natürlich nicht getan'.
Zum Verhängnis wurde ihm aber ein Denunziationsbrief, den sein bereits verhafteter Dolmetscher, mit dem unser Vater seit seiner Zeit am Karlshorster Institut befreundet war, Herr Maximilian von Hamm, geschrieben hatte. Unser Vater hatte offenbar kein schlechtes Gewissen. Obwohl er von der Verhaftung Hamms wusste und sich einige Zeit später beobachtet fühlte, dachte er nicht an Flucht in den Westen. Sich unbemerkt aus unserem Grundstück, das bis ins Saaletal hinunter reicht, aus dem Staub zu machen, wäre ein leichtes gewesen. Und es war auch klar, dass für seine Frau, seinen 84-jährigen Vater, seine Schwiegermutter und uns Kinder, Ursula, 12 Jahre alt, Henk, 17 Tage zuvor gerade 6 geworden und mich, noch ungeboren, so oder so schwere Zeiten beginnen würden, egal, ob er sich nun einer Verhaftung entzog oder nicht. Aber er wusste von seiner Unschuld, die dann endlich, 44 Jahre später, im Jahre 1994 durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation mit der vollständigen Rehabilitation bestätigt wurde.
Wir danken allen, die uns geholfen haben, über das Schicksal unseres Vaters Gewissheit zu erlangen und die dazu beigetragen haben, die Erinnerung an unseren Vater wachzuhalten. Stellvertretend für die Vielen will ich hier nur Herrn Professor Wiemers nennen.
Möge das gemeinsame Gedenken an die Opfer der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zur Versöhnung in Wahrheit beitragen, Wunden schließen und uns daran erinnern, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind. Wie wir leider in einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Honkong und anderen Regionen der Welt sehen, bedarf das Brechtzitat von der Gefahr eines neuen Faschismus der Ergänzung, dass auch der Schoß, aus dem der Stalinismus kroch, noch fruchtbar ist.
Abschließend will ich aber in freier Übersetzung Zeilen aus einem Gedicht des tschechischen Literaturnobelpreisträgers Jaroslav Seifert, zu Beginn des Prager Frühlings niedergeschrieben, rezitieren:
Dass ich nun schon glauben will,
dass es möglich sein wird,
dem Mord ins Gesicht zu sagen
Du bist Mord.
Dass Niedertracht,
obgleich mit Lorbeer umkränzt,
wieder Niedertracht,
Lüge wieder Lüge ist,
so wie sie es waren.
Und dass kein gezückter Pistolenlauf
unschuldige Türen öffnet."
Naumburg, 17. Juli 2020
- Dr. Helmut Sonnenschein (li.) und Henk Sonnenschein (re.)
Eintrag vom 6.7.2020 OFFENER BRIEF
In einem offenen Brief setzt sich Alexander W. Bauersfeld für die Menschen- und Freiheitsrechte in Tibet, Hongkong und Taiwan ein, indem er die Bundeskanzlerin und Bundesregierung auffordert, wirksame Sanktionen gegen die Kommunistische Partei Chinas zu beschließen.
Bundeskanzleramt
Bundeskanzlerin
Angela Merkel
Willy-Brandt-Straße 1
D-10557 Berlin
2. Juli 2020
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,
mit Trauer und Entsetzen verfolge ich, als ehemaliger politischer Häftling der SOZIALISTISCHEN SED-DIKTATUR, wie die SOZIALISTISCHE DIKTATUR der KP CHINAS mit ungeheurer Brutalität die Freiheitsrechte der Völker Chinas und Tibets seit 1949 zerstört und ihnen das SELBSTBESTIMMUNGSRECHT vorenthält. Diese Partei hat in ihrer Geschichte über 35 Millionen Menschen ermordet. Nun weitet die KP Chinas ihre Diktatur auf das Gebiet von HONGKONG aus, und es erfüllt mich mit Scham und Bitterkeit, dass die Bundesregierung diese Verbrechen der KP Chinas unterstützt, indem sie keine wirksamen Sanktionen dagegen beschließt, und durch ihre "EIN-CHINA-POLITIK" sogar die Unabhängigkeit von Hongkong und Taiwan infrage stellt.
Damit werden die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung mitschuldig an den Verbrechen der KP Chinas, wie 1989, als die Ermordung von über zweitausend Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht zur Solidarität mit den Menschen Chinas, sondern - bis heute - zur weiteren Anbiederung an die Diktatur der KP Chinas führt. Der immer wieder erfolgte Kotau vor Diktator Xi Jinping mit Pandabärenfotos, Unterwerfungsgesten und Schweigen zu dessen Menschenrechtsverletzungen, u.a. gegen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, haben diese Diktatur immer wieder ermutigt, diese verbrecherische Politik fortzusetzen und zu intensivieren!
Hiermit fordere ich sofortige Sanktionen gegen die Diktatur der KP Chinas, die Einbestellung des Botschafters der „Volksrepublik“ Chinas und die Unterstützung der Freiheitsbewegung von Hongkong. Gleichzeitig fordere ich endlich die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zu Taiwan. Es ist absolut unerträglich, dass die Beziehungen zur Diktatur der KP Chinas besser sind als die Beziehungen zu dem demokratischen Rechtsstaat Taiwan. Das Argument, die Sicherheit von deutschen Arbeitsplätzen würde von den guten Wirtschaftsbeziehungen zur „Volksrepublik“ Chinas abhängen, ist aus meiner Sicht nicht stichhaltig, denn Beziehungen sind immer zweiseitig und auch die „Volksrepublik“ China braucht Deutschland, sowie die EU.
Die bisherige China-Politik ist gescheitert, weil keine Verbesserung der Menschenrechtslage erfolgt, der "Rechtsstaatsdialog" ergebnislos geblieben ist, und die Diktatur immer massiver in China, Tibet und jetzt in Hongkong wütet.
Freiheit und Demokratie müssen weltweit gelten, es ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten, wenn gegen die Verletzung von Menschenrechten vorgegangen wird.
Hochachtungsvoll
Alexander W. Bauersfeld
...schließenEintrag vom 28.5.2020 HORST HENNIG IST TOT
Am 21. Mai 2020 verstarb Horst Hennig eine Woche vor seinem 94. Geburtstag in Köln.
Ein Nachruf von Gerald Wiemers
Er nahm ihn ernst, den Leitspruch seiner Memoiren "Erinnern als Verpflichtung", herausgekommen 2011. Seitdem ist fast jedes Jahr ein Buch von ihm erschienen. Vor wenigen Wochen hat er die ausgewählten Beiträge von Sigurd Binski herausgegeben. Binski war wie er selbst, ein Gefangener im GULag und sein Freund, zusammengeführt für viele Jahre im sowjetischen Straflager Workuta, nördlich des Polarkreises. Hier lebten und arbeiteten unter schwierigsten Bedingungen politisch Verfolgte, deren Verbrechen darin bestanden, dass sie nach einer überwundenen Diktatur nicht in einer zweiten leben wollten. Die starre kommunistische Ideologie ließ aber keinen demokratischen Neubeginn zu. Anderes Denken war ebenso strafbar wie erst recht anderes Handeln. Zeitlebens hat Horst Hennig die russischen Menschen bedauert, die 70 Jahre in Unfreiheit leben mussten. Ihnen galt seine Sympathie.
- Horst Hennig während des Jahrestreffens der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion 2017 in Berlin
In der Offiziers-Schule in Dresden lernt er Günter Kießling kennen. Mit dem späteren Vier-Sterne-General der Bundeswehr verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Seine bis dahin schwerste Zeit erlebte Horst Hennig vom Dezember 1944 bis Januar 1945 während der Ardennenoffensive. Nach amerikanischer und englischer Kriegsgefangenschaft kam der verletzte Horst Hennig 1946 mit dem Lazarettschiff "ABA" von England nach Hamburg.
In Halle besuchte Horst Hennig zunächst die Vorstudienanstalt, die er mit der Reifeprüfung abschloss. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg nahm er das Medizinstudium auf. Hier begehrte er mit Studienfreunden gegen undemokratische Strukturen auf, wurde verhaftet und ungesetzlich an eine "fremde Macht", die sowjetische Besatzungsbehörde ausgeliefert. Nach kurzem Prozess vor einem sowjetischen Militärtribunal wurde er zu 25 Jahren Lagerhaft und Deportation nach Workuta verurteilt. Über fünf Jahre lebte und arbeitete er dort unter schwierigen Bedingungen, mehr wie ein Arbeitssklave als wie ein Mensch. In Schacht 29, Lager 10, wurde ein Streik blutig niedergeschlagen. 64 politisch verfolgte Häftlinge unterschiedlicher Nationalität erlitten den Tod. Horst Hennig überlebte, dank des Schutzschildes eines toten Kameraden.
Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland begann 1955 sein zweites Leben. Er vollendete sein Medizinstudium und promovierte 1961 an der Universität Köln zum Dr. med. Sein Weg führte ihn bei der Bundeswehr bis zum Generalarzt.
Mit zahlreichen ehemaligen Lagerkameraden pflegte er enge Beziehungen. Die Gründung der Lagergemeinschaft Workuta, die ganz besonders die Interessen der ehemaligen politischen Häftlinge vertritt, geht neben Sigurd Binski und Horst Schüler, auch auf seine Initiative zurück.
Horst Hennig beteiligte sich aktiv am studentischen Widerstand und gehörte zu den Opfern. Vor allem war er aber Akteur bei der Aufarbeitung. Die Rehabilitationen durch die Russische Föderation sind vor allem sein Verdienst. In den 1990er Jahren knüpfte er zahlreiche Verbindungen auf direkten oder diplomatischen Wegen.
Horst Hennig schrieb nicht nur seine Erinnerungen auf, sondern teilte Erfahrungen und objektive Tatbestände mit. Vordergründige Schuldzuweisungen waren ihm fremd. Er wusste um die komplizierten politischen Zusammenhänge. Der Mediziner wurde zum Schriftsteller, zum historischen Forscher, letztlich zu einem Zeugen des letzten Jahrhunderts.
Seine Heimat im eigentlichen Sinne war Mitteldeutschland. Wichtige Stationen waren Klostermansfeld, Eisleben, Marienberg und Halle. Köln wurde später sein Lebensmittelpunkt. Hier bewältigte er ein enormes Arbeitspensum. Hier empfing er Gäste aus aller Welt und führte zahllose Telefongespräche. Seit ein paar Jahrzehnten gehörte auch Leipzig zu seinen bevorzugten Adressen. Hier war sein Verlag.
Horst Hennig ist nur eine Woche vor seinem 94. Geburtstag zu Hause in Köln, umsorgt von seiner Lebensgefährtin Dr. Eveline Demuth, gestorben.
Seine Urne wird später auf dem Friedhof in Klostermansfeld im Grab seiner Mutter und Schwester beigesetzt.
...schließenEintrag vom 13.4.2020 WOLFGANG SCHULLER IST TOT
Am 4. April 2020 verstarb Wolfgang Schuller im Alter von 84 Jahren in Konstanz.
Ein Nachruf von Gerald Wiemers
- Wolfgang Schuller, 2007
Für Schuller, den gelehrten Juristen, Historiker und Gegenwartsautor blieben die Eindrücke lebenslang haften. Als überzeugten Demokraten und deutschen Patrioten waren ihm alle Diktaturen suspekt. Der Zufall wollte es: der Tag der Deutschen Einheit ist zugleich sein Geburtstag. Als er am 3. Oktober 2000 seinen 65. Geburtstag feierte, stand ihm der 10. Jahrestag der Deutschen Einheit mindestens ebenso nahe. Im größten Saal von Gaienhofen am Bodensee feierten 1000 Menschen diesen Tag, und Wolfgang Schuller hielt die Festansprache. Der Tag endete mit dem inbrünstigen Gesang der Nationalhymne. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen, so auch Wolfgang Schuller, der die ihm gewidmete Festschrift hochhielt und anschließend noch viele seiner Bücher signierte.
In Vorträgen und Publikationen beschäftige sich Schuller mit den Menschen, die in Workuta umgekommen sind, aber auch mit den Lebenden. Wichtig war ihm die Entlarvung der Strukturen des sowjetrussischen Systems, eines Lagersystems von ungeheurem Ausmaß, wo die Menschenwürde nicht zählte. Ebenso kritisch sah er, wie sich dieses System auf die von der Roten Armee befreiten und eroberten Gebiete im Osten Europas ausdehnte.
Bereits in seiner juristischen Doktorarbeit zum "Politischen Strafrecht in der DDR 1945-1963" setzte er sich mit dem Unrechtsstaat auseinander. Auch künftig sollte das auf gesicherter Quellenbasis einer der Schwerpunkte seiner Forschungen sein. 1971 habilitierte er sich für Alte Geschichte mit der besonderen Neigung zur griechischen Antike.
Am 4. April 2020 starb Wolfgang Schuller im Alter von 84 Jahren in Konstanz, wo er 28 Jahre den Lehrstuhl für Alte Geschichte innehatte.
Ob sein letztes Werk "Zwischen Jerusalem und Rom" im Herbst bei Herder erscheinen wird, ist ungewiss. In der Ankündigung heißt es: "Schuller liest die biblische Apostelgeschichte des Lukas als historische Quelle". Eine ausführliche Besprechung von drei Büchern "Den Osten verstehen wollen. Drei persönliche Bücher über Folgen und Fragen von 1989" ist soeben in der Zeitschrift "Gerbergasse 18" erschienen. Dagegen wird die Würdigung des Anglisten Wolfgang Iser (1926-2007), sein letztes Projekt, über die Materialsammlung nicht hinauskommen.
Mit Wolfgang Schuller haben wir einen großen Freund verloren, der durch seine Einzigartigkeit als Mensch und großartige Vielheit in seinem Werk hervortrat. Er wird uns fehlen.
...schließenEintrag vom 4.4.2020 NEUERSCHEINUNG
Freiheit in Verantwortung. Sigurd Binskis Beiträge zur Zeitgeschichte.
Die Auswahl seiner Schriften enthält markante Aufsätze, Artikel und Besprechungen aus der Zeitschrift "(Die) Freiheitsglocke" zwischen 1956 und 1993/94, die er überwiegend in diesem Zeitraum ehrenamtlich herausgegeben hat. Aufgenommen wurde auch das längst vergriffene Buch für die Jugend "Zwischen Logik und Liebe", 1978. So hieß es von ihm "Binski ist die Freiheitsglocke und die Freiheitsglocke ist Binski."
Darüber hinaus hat Binski die Außen- und Innenpolitik der DDR analysiert und offengelegt. Die Bundesrepublik mit ihren relativ hohen Arbeitslosenzahlen hat er aber ebenso gegeißelt, wie über Jahrzehnte die unterschiedliche finanzielle Behandlung von Holocaust- und GULag-Opfern. Den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers hat er vorausgesagt, wie nur wenige. Zu den wenigen gehörte auch der frühere ZDF-Kommentator Gerhard Löwenthal.
Freiheit in Verantwortung. Sigurd Binskis Beiträge zur Zeitgeschichte.
Herausgeber: Gerald Wiemers und Horst Hennig
ISBN: 978-3-96023-323-7
Erscheinungsdatum: April 2020
Umfang: 368 Seiten
Preis: 34,00 €
https://www.univerlag-leipzig.de/catalog/bookstore/article/2002-Freiheit_in_Verantwortung
Eintrag vom 8.3.2020 TRIUMPH ÜBER STALIN
Eine Veranstaltung aus Anlass des Weltfrauentags
Rosel Blasczyk und Helga Sperlich haben eine lange Reise auf sich genommen, um in Berlin auf Einladung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur anlässlich des Weltfrauentags am 8. März zum Thema "Frauen im Gulag 1938 – 1955" als Zeitzeuginnen Auskunft zu geben. Weit über hundert Menschen sind gekommen, um ihren Lebensgeschichten zu lauschen.
Ein Bericht von Stefan Krikowski
Die Veranstaltung findet ausgerechnet an Stalins Todestag statt. "Der Hund ist verreckt!" jubeln die Arbeitssklaven überall in den GULags, als sie von seinem Tod am 5. März 1953 erfahren. Ob sie nach der Nachricht vom Tod des Diktators auch Freude empfinden konnten? Zu dieser Frage äußern sich die beiden Frauen zunächst nicht. Vermutlich hatten die harten Jahre der Zwangsarbeit sie "abgestumpft" – ein Wort, das Rosel Blasczyk an diesem Abend des Öfteren in den Mund nimmt. Aber stolz wirken die beiden hochbetagten Damen, wie sie so gepflegt und adrett gekleidet auf dem Podium sitzen. Bei der Begrüßung gibt es Komplimente. Sie sähen schön aus, vielleicht sogar noch schöner als beim letzten Treffen. Verlegen aber selbstbewusst nehmen sie die Komplimente entgegen.
- Foto: Margreet Krikowski
Und eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass beide Frauen über Jahre Zwangsarbeit in Workuta leisten müssen.
Die Erfahrungsberichte von Rosel Blasczyk (geb. 1928) und Helga Sperlich (geb. 1932) sind schon deshalb von Bedeutung, weil sie ein Kapitel der DDR-Geschichte aufschlagen, das in der breiten Öffentlichkeit immer noch zu wenig bekannt ist. Eine Zuhörerin (83 J.) erklärte anschließend ganz erschüttert, von alldem hätte sie noch nie gehört, sie wisse auch gar nicht wo Workuta liegt.
Die Geschichte der SED-Diktatur begann ja nicht erst mit dem Mauerbau 1961, den Verurteilungen zu langjährigen Zuchthausstrafen wegen versuchter Republikflucht und der Ausschaltung individueller Freiheitsrechte durch die allgegenwärtige Stasi, sondern bereits ab 1945. Die Sowjetunion hielt den Osten Deutschlands besetzt und machte sich daran, hier einen Staat gemäß ihrer politischen und gesellschaftlichen Ideologie zu errichten. Zur Absicherung dieses Ziels hatte sie auch das Repressionssystem mitgebracht, mit dem sie zunächst im eigenen Land, dann in der von ihr besetzten Zone (SBZ) und später in der auf diesem Territorium entstandenen DDR gnadenlos gegen jede Opposition vorging.
Zu ihrem wichtigsten Instrumentarium gehörten zum einen die auf deutschem Boden operierenden Organe des sowjetischen Geheimdienstes (NKWD/MWD). Zum anderen hatte sich das Sowjetregime von 1945 bis 1953 (offiziell sogar bis 1955) das Recht vorbehalten, die strafrechtliche Verfolgung vermeintlicher wie tatsächlicher politischer Gegner selbst in die Hand zu nehmen. Die eigens hierfür installierten Sowjetischen Militärtribunale (SMT) verurteilten deutsche Staatsbürger ausnahmslos nach sowjetischen Strafrecht. Damit war besiegelt, dass die meisten SMT-Verurteilten in sowjetische Straflager verschleppt oder – wie im Fall von über 1.000 deutschen Frauen und Männern – in Moskau hingerichtet wurden.
Helga Sperlich wird am 29. August 1951 in Glindow bei Werder durch Mitglieder des MfS gefangengenommen und an die Sowjetische Besatzungsmacht übergeben. Rosel Blasczyk ist zu diesem Zeitpunkt bereits über vier Jahre in der Gewalt der Sowjetmacht. Sie wird während einer Razzia auf einer Tanzveranstaltung am 26. April 1947 in Beelitz/Stadt festgenommen und nach einer Untersuchungshaft in der Potsdamer Leistikowstraße in das Speziallager Sachsenhausen gebracht – ohne Gerichtsverfahren und ohne Urteil. Nach Auflösung des Speziallagers geht es für Rosel Blasczyk nach einem Fernurteil (10 Jahre) aus Moskau am 6. September 1950 in die Sowjetunion und nicht, wie bei vielen ihrer Mitgefangenen, nach Hause.
Helga Sperlich wird am 8. Januar 1952 nach über vier Monaten Haft, nach brutalen Verhören und anderen Verbrechen im NKWD-Gefängnis in der Potsdamer Lindenstraße zusammen mit drei weiteren mitangeklagten Frauen zu 25 Jahren Straflager verurteilt.
Die sowjetische Besatzungsmacht beschuldigt beiden jungen Frauen der „Spionage“. Ein Begriff, der sehr weit gefasst und nach Belieben dehnbar ist. Nach ihrer Freilassung im Herbst 1955 erfährt Rosel Blasczyk, geborene Gerlach, dass eine andere Frau, die wie sie Rosel Gerlach hieß, Bekanntschaft mit einem Engländer hatte, und sie vermutet, dass ihre Leidensgeschichte dieser Namensgleichheit, bzw. Verwechselung geschuldet war.
- Helga Sperlich. Foto: Margreet Krikowski
Helga Sperlich muss im Gleisbau schwere körperliche Arbeit leisten. Die langen Winter in Workuta sind gnadenlos. Mit Entsetzen erinnert sie sich, wie sie in ihrem Sommerkleid im noch winterlichen Mai 1952 in Workuta ankommt. Sofort hat sie erste Erfrierungen an den Füßen. In Waggons werden die Arbeitssklaven zusammengepfercht mit minimaler Versorgung in die Polargegend kurz vor dem Ural verschleppt. Bei klarer Sicht kann sie die Bergkette am Horizont erkennen. Wenn die Purga, der Schneesturm, tobt, kann sie nicht einmal mehr ihre Hand vor Augen sehen und muss höllisch aufpassen, die Leine nicht loszulassen, an der sie und ihre Kameradinnen sich auf dem Weg zum Arbeitsplatz festhalten müssen. Ein Fehlschritt genügt, um verloren zu gehen und zu erfrieren.
- Rosel Blasczyk erzählt, wie schwer es war, den Lehm zu schneiden. Foto: Margreet Krikowski
Rosel Blasczyk schuftet in der Ziegelei, beim Lehmabbau unter Tage, am Hochofen und im Gleisbau. Mit völlig unzureichender Schutzkleidung muss sie unterirdisch Lehmstechen und kann die Norm auch hier nie schaffen. Sie schaut sich die Arbeitsabläufe bei den Frauen aus dem Baltikum ab, um so allmählich die Norm einigermaßen zu erfüllen. Ein äußerst mühseliges Geschäft, den harten Lehm mit großen Messern zu schneiden.
Beide Frauen berichten vom Gleisbau unter freiem Himmel, wie sie sich in ihren jeweiligen Brigaden gegenseitig regelmäßig auf Erfrierungen untersuchen. Weiße Flecken, die einen Erfrierungsbrand andeuten, werden mit Schnee eingerieben.
- Foto: Margreet Krikowski
Frau Sperlich berichtet, dass die ehemaligen GULag-Häftlinge in der DDR nicht von ihrem Leid erzählen dürfen, in der Bundesrepublik hingegen wollen die meisten Menschen nichts vom Gulag wissen. Aber heute sollen wir alle den Zeitzeuginnen zuhören und lernen, damit wir nicht wieder auf die leeren Versprechen eines wie auch immer gearteten Sozialismus/Kommunismus hereinfallen.
Die Geschäftsführerin Dr. Anna Kaminsky begrüßte die Zeitzeuginnen und die Gäste. Organisiert wurde die Veranstaltung von Dr. Matthias Buchholz, Leiter der Abteilung Archiv, Bibliothek und Dokumentation. Die Moderation hatte der Historiker Dr. Meinhard Stark, der einfühlsam die Fragen an beide Zeitzeuginnen stellte, für den Zuhörer ein großer Erkenntnisgewinn.
Helga Sperlich kam am 28. Dezember 1953 in Glindow an und flüchtete am 8. Januar 1954, auf den Tag genau zwei Jahre nach ihrer Verurteilung, in den Westen.
Rosel Blasczyk, die unfassbare 8 ½ Jahre ihres Lebens in Gefangenschaft verbrachte, traf am 15. Oktober 1955 in Friedland ein.
Nach russischer Art sind die beiden Frauen rehabilitiert: kein Wort der Entschuldigung, keine Entschädigung. Aber unterkriegen lassen sie sich nicht.
Die vollständige Veranstaltung ist hier nachzuhören:
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/mediathek/frauen-im-gulag-1938-1955-zwei-generationen.
Nach der Begrüßung durch Dr. Anna Kaminsky und Dr. Meinhard Stark hören Sie ab Minute 0:07:13 eine Präsentation zu Innenansichten eines Frauenlagers 1938-1946 mit einem Ausschnitt aus einem Dokumentar-Feature mit den ehemaligen Gulag-Häftlingen Ida Konrad, Gertrud Platais, Alice Schellenberg und Frieda Siebenaicher. Für die Interviews und das Manuskript zeichnet Dr. Meinhard Stark verantwortlich.
Ab Minute 0:39:00 hören Sie das Interview mit Rosel Blasczyk und Helga Sperlich.
Eintrag vom 5.3.2020 DER TAG AN DEM STALIN STARB
"Der Tag an dem Stalin starb."
[...] am 5. März 1953 starb Josif Wissarionowitsch Stalin, mit bürgerlichem Namen Dshugaschwili, einer der schlimmsten Diktatoren, die die Welt erlebt hat.
Von Prof. Dr. Werner Gumpel
[...] am 5. März 1953 starb Josif Wissarionowitsch Stalin, mit bürgerlichem Namen Dshugaschwili, einer der schlimmsten Diktatoren, die die Welt erlebt hat. Für die politischen Gefangenen im Lager Nr. 13, Schacht 9 und 10, in Workuta, 160 Km nördlich des Polarkreises. war dieser Tag zunächst ein Tag wie jeder andere: Um sieben Uhr am Morgen mussten sie nach einem Zählappell vor das Lagertor treten, wo sie vom "Konvoi" in Empfang genommen wurden. Dieser bestand aus einer Gruppe von mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten, die dafür zu sorgen hatten, dass die Gefangenen zum ihnen zugewiesenen Arbeitsobjekt gebracht wurden, und dass keiner von ihnen die Flucht wagte. Eine alltägliche Prozedur. Alltäglich auch die Warnung vor einem Fluchtversuch. Der Kommandeur des Konvoi verkündete mit lauter Stimme: "Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts wird als Fluchtversuch gewertet. Der Konvoi schießt ohne Vorwarnung. Hände auf den Rücken! Im Schritt – vorwärts!".
In einer Fünferreihe auch ich und Erwin Jöris, über dessen abenteuerliches Leben die "Zeitfragen" in der Ausgabe 5 von diesem Jahr anlässlich seines hundertsten Geburtstags berichtet haben. Nach einem Marsch von etwa einer Stunde erreichte die Kolonne das Arbeitsobjekt. So paradox dies klingen mag: Mitten in der Tundra sollte ein Kühlhaus errichtet werden. Auch in den wenigen Wochen des arktischen Sommers gab es nämlich Tage mit Temperaturen von über zehn Grad. Das Fleisch der Rentiere, von deren Züchtung und Verkauf das einheimische Volk der Nenzen lebte, musste bis zu seinem Abtransport in südliche Gefilde kühl gelagert werden, damit es nicht verdarb. Das Objekt war mit Wachtürmen und einer Todeszone gesichert, die niemand betreten durfte. Andernfalls wurde er erschossen. Und das geschah auch dann, wenn der Betreffende durch seine Tätigkeit gezwungen war, die "verbotene Zone" zu betreten.
Durch den Lautsprecher in der Lagerbaracke hatten wir schon vor drei Tagen erfahren, dass Stalin erkrankt sei. "Hoffentlich holt ihn der Teufel", meinte Erwin Jöris zu mir. "Es ist für uns die einzige Chance, hier herauszukommen." Erwin litt psychisch und körperlich wie wir alle. Kein Kontakt zu den Lieben zu Hause, Hunger und die Ungewissheit, ob die 25 Jahre Zwangsarbeit, zu denen er, ebenso wie ich, von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt worden war, je ein Ende nehmen würden. Doch niemals verlor er seinen Optimismus, immer siegte seine "Berliner Schnauze", die auch für uns andere Deutschen, die wir vom DDR-Regime als Oppositionelle nach Workuta "entsorgt" worden waren, erfrischend und aufmunternd wirkte. Gejammert haben unter uns Deutschen nur sehr wenige. Schließlich hatten wir alle das gleiche Schicksal. Erwin gehörte in keinem Fall zu ihnen.
Anfang März war die Polarnacht dem Tageslicht gewichen. Am 5. März schien sogar die Sonne für einige Stunden. Ein gutes Omen? Wir arbeiteten bei der Aushebung der Gräben für die Fundamente des Kühlhauses. Dazu musste der Dauerfrostboden mit der Spitzhacke aufgeschlagen werden – das war wie der Versuch, Beton mit der Spitzhacke zu zerschlagen. Doch Gefangenenarbeit war Sklavenarbeit und kostete nichts. Die Gräben mussten eine Tiefe von drei bis vier Metern erreichen, mussten so tief sein, dass Kies oder Felsen erreicht waren. Nur darauf die Fundamente des Hauses zu setzen, hatte einen Sinn.
Die Schicht dauerte zwölf Stunden, dann traf die Nachtschicht ein. Eine Mittagspause gab es nicht. Am Morgen hatten wir eine Schüssel mit Kohlsuppe und einen Kanten Brot erhalten, jetzt lechzten wir auf das "Abendmahl", das aus einer nur teilweise, nämlich je nach Normerfüllung gefüllten Schüssel Brei und einem Stück Fleisch, sowie zwei oder drei Gramm Öl bestand. Endlich also Abmarsch zum Lager.
Dort angekommen erfolgten Zählung und Durchsuchung. Es hätte ja sein können, dass irgendwelche "gefährlichen" Gegenstände ins Lager geschmuggelt werden. Als wir das Lagertor durchschritten hatten kamen uns erste Gefangene entgegen. Ein Ukrainer, mit dem ich lange in einer Brigade gearbeitet hatte, lief auf mich zu und schrie mit sich überschlagender Stimme: "Stalin ist tot! Stalin ist tot!" Er schüttelte mir die Hand und lief zu Erwin: "Stalin ist tot! Jetzt wird sich alles ändern! Hurra! Stalin ist tot!" Erwin und ich reichten uns die Hände, aber wir fanden keine Worte. Vor Erregung konnte ich nicht sprechen, und ich denke, dass es Erwin ebenso ergangen ist. Auch Freude kann die Stimme verschlagen.
In der Baracke herrschte Aufregung. Die Menschen aus den vielen Nationalitäten der UdSSR und aus Osteuropa, die hier zusammengewürfelt waren, waren vereint in der Einzigartigkeit des historischen Geschehens, das von schicksalhafter Bedeutung war. Doch es war nicht laut, es gab kein Stimmengewirr. Die Gespräche verliefen gedämpft. Freude offen zu zeigen wagten nur wenige: Wer wusste denn, wie es nun weitergehen würde, wer an die Stelle Stalins treten würde? Vor allem: Würden seine Anhänger, würde der Apparat jene Menschen, die ihre Zufriedenheit über den Tod des Diktators zeigten, bestrafen und nach alter Sitte erschießen? Auch die Wachtposten und die Lagerverwaltung waren verunsichert. Wir bemerkten dies daran, dass sie sich zurückhielten und möglichst wenig in Erscheinung traten.
Am nächsten Tag die alte Prozedur. Das Leben verlief weiter so wie gehabt. Sammeln am Lagertor Aufruf mit Namen und Sträflingsnummer, Warnung, Abmarsch. Wie immer führte der Weg durch die einzige große Straße der von Zwangsarbeitern errichteten Stadt Workuta, Deren Einwohner waren zum überwiegenden Teil Verbannte und entlassene Häftlinge. Dem Pulk von bewachten zerlumpten und verhungerten Sträflingen wurde kaum Aufmerksamkeit gezollt: Zu viele gab es von ihnen, zu gewohnt war der Anblick. Doch ein Mann blieb am Straßenrand stehen. Er fixierte uns. "Schau Dir den an!" sagte Erwin. Dann hörten wir die Stimme dieses Mannes. Er hatte sich breitbeinig aufgestellt und schrie so laut er konnte: "Podochla sobaka!" (der Hund ist verreckt!) und wieder und wieder: "Der Hund ist verreckt! Der Hund ist verreckt!"
Bald blieb er hinter uns zurück. Millionen von Russen mögen gedacht haben wie er, nur wagten sie es nicht, ihren Gedanken zu artikulieren, zu tief lag die Angst von Jahrzehnten des Terrors in ihrem Gemüt. Doch es gab auch selbst unter den Gefangenen Menschen die laut klagten: "Unser großer Führer ist tot. Was soll jetzt aus uns werden, was soll aus Russland werden?" Folgte man der Presse (im Lager war ein Exemplar der Parteizeitung "Pravda" ausgehängt), so war Russland in Trauer erstarrt.
Es dauerte nur wenige Monate und es ereigneten sich bemerkenswerte Dinge. Im Lagerlaufsprecher wurde fast täglich eine Liste von Namen verlesen. Im Anschluss hieß es: "Zu Unrecht verurteilt. Die Genannten sind unverzüglich zu entlassen." Es waren fast ausschließlich Staatsbürger der UdSSR. Viele von ihnen hatten zu Unrecht zehn und mehr Jahre in Lagerhaft verbracht, wo sie den Tod von hunderten Mithäftlingen erlebt hatten. Ein besonders tragischer Fall, den ich wohl nie vergessen werde: Ein Russlanddeutscher evangelischer Pfarrer mit dem deutschen Namen Karl Weber, war wegen seiner seelsorgerischen Tätigkeit Ende der dreißiger Jahren verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Nach zehn Jahren hieß es, er werde entlassen. Als er am festgesetzten Tag zum Lagertor kam wurde ihm mitgeteilt, dass seine Strafe um fünf Jahre verlängert worden sei. Er unterschrieb und wurde zurück in die Baracke geführt. Als diese fünf Jahre vorbei waren, sollte er nun endgültig entlassen werden. Am Entlassungstag schritt er zur Lagerwache, doch erneut hatte er zu unterschreiben: "Ihre Haftstrafe ist um weitere fünf Jahre verlängert worden." Solche Haftverlängerungen konnten von Moskau aus verfügt werden, ohne dass es ein Verfahren dazu gab. So konnten auch Freiheitsstrafen per Dekret nachträglich in Todesstrafen umgewandelt werden. Nun aber, nach fast zwanzig Jahren im Sommer 1953, stand der Pfarrer Weber auf der Liste jener Menschen von denen es hieß: "Zu Unrecht verurteilt. Unverzüglich zu entlassen." Wir gratulierten ihm herzlich. Er war so aufgeregt, er sprach kein Wort. Als es hieß, er solle zur Kommandantur kommen und seine Entlassungspapiere holen, versagte sein Herz. Er fiel tot um.
Für uns Deutsche änderte sich zunächst nicht viel, außer dass sich die Zustände im Lager verbesserten. Als sich am 1. August 1953 die Arbeiter des Schachts 29 zu einem friedlichen Streik erhoben, wurde das Lager von Truppen umstellt und in die am Lagertor demonstrierenden Menschen hineingeschossen. 53 Gefangene wurden erschossen, unter ihnen zwei Deutsche, 123 wurden schwer oder leicht verletzt, unter ihnen 14 Deutsche. Doch der Blutzoll, ihr Opfer war nicht umsonst. Nicht nur die Verhältnisse in den Lagern änderten sich nun, auch die Zahl der Entlassungen nahm zu. Eine Gruppe von Deutschen konnte im September 1953 in die Heimat zurückkehren. Anderen war dieses Glück erst zwei Jahre später vergönnt, zweieinhalb Jahre nach dem Tod des Diktators. Unter ihnen waren auch Erwin Jöris und ich.
Der Beitrag erschien zuerst auf https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2013/nr10-vom-432013/der-tag-an-dem-stalin-starb.html.
...schließenEintrag vom 1.3.2020 VORTRAG VON JÖRG BABEROWSKI
"Er gab uns das Lachen zurück. Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung"
Die Friedrich A. von Hayek Gesellschaft e.V. hatte am 26. Februar 2020 Prof. Dr. Jörg Baberowski als Referent eingeladen.
Ein Bericht von Vera Lengsfeld.
Der Vortragsraum des Berliner Hayekclubs war so gut gefüllt, dass kaum eine Stecknadel zu Boden fallen konnte. Man war gekommen, um einen Vortrag des bekannten Historikers Jörg Baberowski über den leider fast vergessenen Nikita Chrustschow zu hören. In einer Zeit, da uns das Lachen in Deutschland fast vergangen ist, weil vor aller Augen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie von unseren "Eliten" in Politik und Medien immer schamloser demontiert werden, erwies sich der Vortragstitel als Publikumsmagnet. In der obligatorischen Vorstellungsrunde bezeichneten sich zwei Anwesende mit einem gewissen Galgenhumor als "Internethetzer" und "Internethetzerin", um zugleich politisch-korrekt zu präzisieren: "Internethetzende". Das Lachen zeigte, dass hier vor allem Regierungskritiker versammelt waren. Was die Anwesenden von Baberowski zu hören bekamen, war selbst für Leute, die sich in der Geschichte der Sowjetunion sehr gut auskennen, neu und spannend.
Als Anfang März 1953 in Stalins Datscha in Kunzewo bei Moskau nicht wie üblich gegen 12 Uhr ein Glöckchen klingelte zum Zeichen, dass man nun das Schlafzimmer des Despoten betreten und ihm das Frühstück servieren durfte, traute sich keiner seiner Bediensteten oder der anwesenden Leibwächter, das Zimmer zu betreten und nachzuschauen, warum Stalin kein Zeichen gab.
Nach einigen Stunden rief man im Kreml an, wo man Stalin bereits vermisste. Eine kleine Gruppe von Politbüromitgliedern fuhr nach Kunzewo. Als sie die Tür zu Stalins Schlafzimmer geöffnet hatten, sahen sie den Diktator in seinen Exkrementen am Boden liegen. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, lebte aber noch. Den Politbürokraten war klar, dass sie ihr Leben verwirkt hatten, sollte Stalin von seinem Anfall genesen. Niemand, der ihn so gesehen hat, hätte weiter leben dürfen. Also schlossen sie die Tür wieder, erklärten, Stalin schliefe noch, dürfe nicht gestört werden und kehrten erst am nächsten Tag mit Ärzten zurück. Der Diktator lebte zwar immer noch, war aber bereits jenseits aller Rettungsmöglichkeiten. Während sich Stalins Sterben hinzog, mussten die Politbürokraten die Nachricht von seinem Tod vorbereiten. Das war nicht so einfach, denn Stalin wurde wie ein Gott verehrt und Götter sterben nicht. Einerseits konnten sich die Politbürokraten eine Welt ohne Stalin nicht vorstellen, andererseits musste die Herrschaft des Politbüros ohne Stalin neu legitimiert werden. Man einigte sich auf eine Kollektivführung und einen sofortigen Bruch mit den stalinistischen Herrschaftsmethoden. Man wollte einander nicht mehr umbringen. Die einzige Gefahr für die Runde, Lawrenti Beria, Georgier wie Stalin und sein Geheimdienstchef, wurde im Juni 1953 auf die alte Weise beseitigt. Man wickelte ihn im Arbeitszimmer von Molotow in einen Teppich, schaffte ihn aus dem Kreml und ins Gefängnis, stellte ihn vor ein Standgericht und ließ ihn erschießen. Damit war die Gefahr der Rückkehr stalinistischer Methoden für immer gebannt.
Im Westen wurde später immer wieder die Frage gestellt, wieso es ausgerechnet Nikita Chrustschow, der Bauer aus dem Kuban, der Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte, sodass er lieber diktierte, an die Spitze geschafft hatte. Baberowskis einleuchtende Antwort war, dass Chrustschow als der Ungefährlichste der Nachfolger galt.
Alle Politbürokraten hatten ihren Anteil an Demütigungen und Leid von Stalin erfahren. Sie mussten nach dem Arbeitstag Stalins, der gegen Mitternacht endete, mit ihm im Kreml Filme schauen, meist amerikanische Western, ihn dann auf die Datsche begleiten und mit ihm essen. Dabei wurden sie aufgefordert, zum Beispiel auf dem Tisch zu tanzen, wie Chrustschow, oder sich zum Gaudi auf Tomaten zu setzen, wie ein anderer Politbürokrat. Erst gegen vier Uhr Morgens durften sie in ihre Wohnungen fahren. Das waren die harmlosen Schikanen, denen die Politbürokraten ausgesetzt wurden. Schlimmer war es, wenn ihre Frauen in den Gulag geschickt wurden, wie die Ehefrau von Molotow, der selbstverständlich zustimmen musste, der Bruder im eigenen Arbeitszimmer erschossen wurde, wie es Lazar Kaganowich passierte oder man gezwungen wurde, Teile der eigenen Familie exekutieren zu lassen, wozu Beria gezwungen war.
Für Stalins Nachfolger war sein Tod eine Befreiung von diesen Marten. Sie leiteten eine stille Entstalinisierung ein. Als Erstes beendeten sie die Prozesse gegen die jüdischen "Mörderärzte" , die angeblich vorgehabt hatten, Stalin zu vergiften und stoppten die mit diesen Prozessen verbundene antisemitische Kampagne. Dann leiteten sie die Entlassung der Gefangenen des Gulag ein.
Aber Nikita Chrustschow wollte mehr. Er war von Schuld, die er in der Stalinzeit auf sich geladen hatte, auch er hatte Todeslisten unterschrieben und Genossen denunziert, gepeinigt. Er wollte, dass über die Stalinschen Verbrechen geredet wurde. Deshalb lud er Gefangene ins Politbüro ein, um dort über ihre Erlebnisse im Lager zu berichten. Das waren zuerst die Angehörigen der Politelite, wie die Frau von Molotow. Damit wurden aus abstrakten Taten anschauliche Verbrechen. Als dem Politbüro über die letzten Stunden des ehemaligen Politbürokraten Eiche, dem man kurz vor seiner Erschießung noch ein Auge ausschlug, berichtet wurde, war dies das Ende eines Menschen, den sie alle kannten, mit dem Manche befreundet gewesen waren. Zum Schluss mussten die Täter vor dem Politbüro berichten. Danach wurde das Verbot von Folter und willkürlichen Erschießungen beschlossen.
Die Entstalinisierung war kein Machtkampf, sondern das Projekt eines Mannes, der mit seiner Schuld nicht mehr leben konnte und für den diese Schuld abzutragen eine Befreiung vom Übervater war.
Stalins Datscha wurde ausgeräumt, seine Habseligkeiten über das ganze Land verteilt, sein Personal entlassen. Nichts sollte mehr an ihn erinnern. Seine Bilder wurden in den Parteibüros und den öffentlichen Räumen abgehängt. Schließlich wurde seine einbalsamierte Leiche aus dem Lenin-Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer beigesetzt. Das war für Chrustschow nicht genug. Mit den Anhörungen im Politbüro bereitete er die Erlaubnis vor, auf dem Parteitag 1956 über die Verbrechen Stalins zu berichten.
Vorher revitalisierte Chrustschow die Partei, die unter Stalin nur noch ein Schattendasein geführt hatte, als Ort der politischen Mobilisierung. Seine Rede vor dem Parteitag war keineswegs geheim. Sie wurde nicht nur vor den Delegierten gehalten, sondern anschließend überall in der Sowjetunion öffentlich verlesen. Die Botschaft war, dass die Todesdrohung als Mittel der Repression Geschichte war. Es durfte wieder offen gesprochen und die Regierung kritisiert werden. Chrustschows Entstalinisierung war ein Akt der Zivilisierung der sowjetischen Gesellschaft. Seine großartige Tat brachte aber nicht nur Erleichterungen des Lebens mit sich.
Die Hunderttausenden politischen Gefangenen, die aus dem Gulag zurückkkehrten, waren ein Problem. Die wenigsten konnten, wie die Ehefrau von Molotow, ins traute Heim zurückkehren. Es gab für die ehemaligen Häftlinge, in einer Zeit, in der viele Menschen noch in überfüllten Gemeinschaftswohnungen, baufälligen Hütten oder gar Erdlöchern hausten, keine Wohnungen, keine Arbeit, nicht genügend Lebensmittel für die Entlassenen.
Aber eins hatte Nikita Chrustschow erreicht: Es durfte wieder gelacht werden, auch über ihn. Die Zahl der Chrustschow-Witze ist Legion. Einer davon lautet: Nikita besuchte eine Kunstausstellung. Er geht von Bild zu Bild und fragt die Maler, was denn diese Hundescheiße oder jene Krakelei darstellen soll. Zum Schluss fragt er: Und was ist dieser Arsch mit Ohren? Das ist ein Spiegel, Nikita Sergejewitsch, antwortet einer der Künstler. Für diese Witze musste niemand mehr Repressionen befürchten.
Als Molotow und Kaganowich den ersten Versuch machten, Chrustschow zu stürzen, landeten sie, als der Putsch scheiterte, nicht vor dem Erschiessungspeleton, wie Molotow noch befürchtete, auch nicht im Lager, sondern wurden Direktor einer Asbestfabrik im Ural (Kaganowich) und Botschafter in der Mongolei (Molotow).
Auch als Chrustschow am Ende doch noch gestürzt wurde, weil er eine Amtszeitbegrenzung für Funktionäre einführen wollte, wurde er nicht gedemütigt und verhaftet, sondern mit Ehrerbietung in den Ruhestand geschickt. Damit hatte der Mann, der seien Landsleuten das Lachen wiedergegeben hatte, endgültig über Stalin gesiegt.
Der Beitrag erschien zuerst auf https://vera-lengsfeld.de/2020/02/28/nikita-chrustschow-hat-der-sowjetunion-das-lachen-wiedergegeben/. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Hier kann man den Vortrag von Jörg Baberowski nachhören. (Die Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 2014.)
...schließenEintrag vom 23.2.2020 WERNER HÖPFNER IST TOT
Am 5. Februar 2020 verstarb Werner Höpfner im Alter von 91 Jahren in Berlin.
Ein Nachruf von Meinhard Stark
Im vergangenen Jahr kam Werner Höpfner, wie immer in Begleitung seiner Frau Gundi, zum jährlichen Treffen der Lagergemeinschaft nach Königswinter und folgte interessiert den Vorträgen und Gesprächen. Im Februar diesen Jahres hörte sein Herz auf zu schlagen. Mit Werner Höpfner verliert die Lagergemeinschaft ein langjähriges und engagiertes Mitglied, das immer einen gebührenden Platz in unseren Erinnerungen haben wird.
Meine, unsere Gedanken sind nun bei seiner lieben Ehefrau Gundi, seiner Tochter Christiane und all seinen Nächsten. Ihren Abschiedsworten schließen wir uns mitfühlend an; Tieftraurig, doch voller bereichernder Erinnerungen und liebevoller Gedanken nehmen wir Abschied.
Meinhard Stark, Historiker und Publizist
...schließenEintrag vom 29.1.2020 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Rosel Blasczyk wurde am 29. Januar 2020 auf www.workuta.de veröffentlicht.