Aktuelles
Eintrag vom 31.10.2022 BERLINER ZEITUNG
Ostdeutsche im Gulag: Ein oft vergessenes Kapitel DDR-Geschichte
Sie sind großteils vergessen: Ostdeutsche wie Johannes Krikowski wurden in sowjetische Arbeitslager verschleppt. Sein Sohn betreibt Aufarbeitung. Ein Treffen.
von Lenja Stratmann
"In der DDR durftest du nicht darüber reden, im Westen interessiert es keinen." Das sagt Stefan Krikowski, während er von der Geschichte seines 2007 verstorbenen Vaters erzählt. Johannes Krikowski wurde 1952 als junger Student der Zahnmedizin zu 25 Jahren Haft im Arbeitslager Workuta verurteilt. Die russische Stadt liegt im Ural, 100 Kilometer über dem nördlichen Polarkreis.
Online erschienen in der Berliner Zeitung am 29.10.2022
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/aufarbeitung-der-sed-diktatur-workuta-ostdeutsche-im-gulag-ein-oft-vergessenes-kapitel-ddr-geschichte-li.269859
Johannes Krikowski (Mitte) trifft am 12. Dezember 1955 zusammen mit insgesamt 57 Heimkehrern (Zivil- und Kriegsgefangene aus dem Lager 5110/55) mit einem Sondertriebwagen aus Fürstenwalde in Berlin ein. Die Heimkehrer waren am 6. Dezember vom Sammellager Gorki/UDSSR in Marsch gesetzt worden, nachdem sie bereits am 19. Oktober die Heimreise hatten antreten sollen. Die Transporte waren jedoch ohne Angaben von Gründen ausgesetzt worden.
Eintrag vom 30.10.2022 RÜCKGABE DER NAMEN
Am 29. Oktober 2022, am Vorabend des in Russland offiziellen Gedenktages für die Opfer politischer Verfolgung, wurden wie jedes Jahr in vielen russischen Städten und weltweit die Namen derer gelesen, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Zum dritten Mal fand diese Namenslesung auch am Berliner Steinplatz statt. Memorial Deutschland e.V. hatte wieder zu dieser Gedenkveranstaltung eingeladen, um am Denkmal für die Opfer des Stalinismus auf dem Steinplatz in Berlin-Charlottenburg die Namen der aus Sachsen-Anhalt stammenden Opfer zu verlesen. In den letzten zwei Jahren wurden die Opfer aus Berlin und Brandenburg gelesen. Zwischen 1950 und 1953 wurden 923 Zivilistinnen und Zivilisten von Sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort erschossen, 140 Personen kamen davon aus Sachsen-Anhalt. Die meisten Opfer wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert.
Die Opfer haben kein individuelles Grab, sie wurden heimlich erschossen und die meisten auf dem Donskoje Friedhof in Moskau anonym verscharrt. Der derzeitige grauenhafte Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert Tausende unschuldige Tote, viele in Massengräbern verscharrt.
Bei schönstem Herbstwetter kamen etwa 100 Personen zur Gedenkveranstaltung, darunter etliche Russen und Ukrainer. Viele lasen Namen ihrer eigenen Familienmitglieder oder anderer für sie wichtige Personen, die Opfer kreml‘scher Gewaltherrschaft wurden, vor. So hat Frau Sabine Erdmann-Kutnevic an das Schicksal ihres Onkels Hans-Jürgen Erdmann erinnert. Er arbeitete bei der SAG Wismut und wurde im Sommer 1951 verhaftet. Er wurde zum Tode verurteilt und am 26. Juni 1952 in Moskau erschossen. Seine Nicht-Rehabilitierung belastet die Familie bis zum heutigen Tag. Weiterhin erinnerte Frau Erdmann-Kutnevic an Boris Romanchenko , 96 Jahre und Überlebender mehrerer deutscher KZ, der im März 2022 in seiner Wohnung in Charkiw nach russischem Raketenbeschuss verstarb, und an Liza Dmytrieva, 4 Jahre, gestorben am 14.7.2022 nach russischem Raketenbeschuss auf Winnyzja auf dem Weg von der Logopädin nach Hause. Sie hatte das Down-Syndrom und wurde von ihrer Mutter "kleiner Engel" genannt. Frau Nora Kreis, Mitarbeiterin der Beauftragten des Landes Sachsen Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, stellte das gerade erschienene Buch mit all den vielen Namen, die an diesem Nachmittag verlesen wurden, vor: ABGEHOLT, VERSCHWUNDEN, HINGERICHTET - Politische Verfolgung in Sachsen-Anhalt 1945 bis 1953. Hg.: Birgit Neumann-Becker. https://lesbar-kressbronn.buchkatalog.de/abgeholt-verschwunden-hingerichtet-9783963114632
Auch Angehörige der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion beteiligten sich an der Namenslesung. So wurde an den Aufstand, bzw. Streik der Workuta-Häftlinge erinnert, der von MWD-Truppen am 1. August 1953 blutig niedergeschlagen wurde. Im Lager 10 (Schacht 29) wurden 64 Tote verzeichnet. Die große Mehrheit der Opfer waren Ukrainer. Namentlich bekannt sind 30 Ukrainer (fast jeder Zweite), die bei der Neiderschlagung des Streiks erschossen wurden. Die zwei deutschen Opfer waren Wolfgang Jeschke aus Berlin (geb. am 2. März 1932 ) und Hans-Gerd Kirsche (geb. am 21.11. 1929 in Waldheim/Döbeln).
Impressionen von der Gedenk-Veranstaltung:
Eintrag vom 25.8.2022 UKRAINE
"Wir haben den Krieg nicht gewollt"
Eine Analyse der Reden des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Von Uta Gerlant
Als sich Wolodymyr Selenskyj am Vorabend des russischen Überfalls auf die Ukraine in einer Rede an die Bewohner Russlands wandte, erklärte er: "Ihnen sagt man, wir seien Nazis. Wie kann ein Volk den Nazismus unterstützen, das für den Kampf gegen den Nazismus acht Millionen Menschen geopfert hat? Wie könnte ich ein Nazi sein? Erzählen sie das einmal meinem Großvater, der den gesamten Krieg in der sowjetischen Armee gekämpft hat…" Dieser Großvater Semjon Selenskyj überlebte den Krieg – seine drei Brüder und sein Vater wurden von den Deutschen ermordet, weil sie Juden waren.
Der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie in Krywyj Rih in der Ostukraine stammende Präsident der Ukraine wird von Putin als Nazi beschimpft. Von Putin, der nachweislich rechtsradikale Bewegungen in ganz Europa unterstützt. Die Ukraine müsse entnazifiziert werden, weil in Kyjiw ein neonazistisches Regime an der Macht sei. Tatsächlich sind die Rechtsradikalen bei der Wahl 2019 in der Ukraine gerade einmal auf zwei Prozent gekommen – im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten.
"Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen."
Die Ukraine hat viele überrascht, die wenig über sie wussten, bevor die Russische Föderation am 24. Februar 2022 den vollumfänglichen Aggressionskrieg gegen sie startete. Auch den Präsidenten hatten sie unterschätzt und gern auf seinen Beruf als Schauspieler und Comedian reduziert. Dabei schwang das Vorurteil mit, dieser Beruf sei unseriös. Doch er erfordert vielfältige Fähigkeiten, die Wolodymyr Selenskyj als Präsident im Krieg zu nutzen weiß.
"Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen" – mit dieser Antwort an die der Ukraine wohlgesonnenen USA bewies Wolodymyr Selenskyj Schlagfertigkeit und Standhaftigkeit. Die Botschaft war eindeutig: Ich bleibe bei meinem Volk; Angst kann ich mir nicht leisten. Und: Unterstützt uns – mit Waffen, denn wir sind überfallen worden!
Seit dem 24. Februar richtet sich Selenskyj jede Nacht an die Ukrainerinnen und Ukrainer, manchmal auch mehrmals. Er zeigt, dass er an ihrer Seite ist, dass er sich als einer der ihren versteht. Er ist präsent. Er nennt die wichtigsten Entwicklungen des Tages, würdigt die Tapferkeit seiner Landsleute und ermutigt sie. Und er legt Rechenschaft ab: mit wem hat er gesprochen, was hat er erreicht, was hat er vor. Rede ist Führung – das beweist Präsident Wolodymyr Selenskyj im Krieg jede Nacht auf’s Neue.
Selenskyj agiert. Wenn es sein muss, reagiert er auch – und dann schnell: Als am 16. März auf zwei gehackten ukrainischen Fernsehkanälen ein Video auftauchte, in dem ein Avatar des Präsidenten die Ukrainer aufforderte zu kapitulieren, drehte der wirkliche Selenskyj sofort in den Straßen Kyjiws ein Instagramm-Video, in dem er der Lüge widersprach: Die einzigen, die er zur Kapitulation auffordere, seien die Russen.
Immer wieder – gerade auch, als Kyjiw unter Beschuss stand, zeigte sich der Präsident gemeinsam mit seinem Team auf zentralen Plätzen der ukrainischen Hauptstadt. In improvisiert wirkenden Drehs vermittelte er: Wir sind hier, wir arbeiten für euch und mit euch. Allein schaffen wir das nicht, gemeinsam aber wohl. Lasst euch nicht einschüchtern, habt keine Angst!
Alte Grenzen verschwinden, neue Mauern wachsen
Richtet sich der ukrainische Präsident an ausländische Parlamente, so knüpft er nicht nur an nationale Erinnerungsnarrative an, wie immer wieder bemerkt wurde. Er füllt sie auch neu. Verdun in seiner Rede an die französische Nationalversammlung steht gerade nicht für den Stellungskrieg, den wir Deutschen assoziieren, sondern für die völlig zerstörte Stadt – als Gleichnis für Mariupol.
In seiner Rede an den Deutschen Bundestag benutzt Selenskyj das Bild der Mauer, nicht um an deren Fall zu erinnern, sondern weil er eine neue Mauer entstehen sieht in Europa. Eine Mauer zwischen denen, die sein Land rückhaltlos unterstützen und denen, die zaudern. Die deutsche Entscheidung für die Nordstream-Pipeline nennt er Zement und die deutsche Absage an die ukrainische NATO-Mitgliedschaft Steine für diese Mauer; die deutsch-russischen Handelsrouten schließlich bezeichnet er als Stacheldraht auf der Mauer. Vor dem Hintergrund der deutschen Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen in der Ukraine sagte er: "Ich wende mich heute an Sie, damit Sie hinter Ihrer neuen Mauer nicht neue Schuld auf sich laden." Klare, harte Worte. Keine Anbiederung, sondern Forderungen.
Der Ton seiner Reden ist jeweils ein anderer – je nachdem, zu wem er spricht: enttäuscht und daher distanziert zu den Deutschen, warm und freundschaftlich zu den Polen. In seiner Rede an den polnischen Sejm sprach er die Polen als Geschwister an. Er sagte: "Innerhalb nur eines Tages, am ersten Tag des Krieges, wurde es klar für alle Ukrainer und für mich, und ich bin sicher, für alle Polen, dass es keine Grenzen mehr gibt zwischen uns, zwischen unseren Nationen. Keine physischen. Keine historischen. Keine persönlichen."
Auch die Reaktionen auf die Reden hätten jeweils unterschiedlicher nicht sein können: Während die polnischen Abgeordneten ukrainische Fahnen entrollten, um ihre Verbundenheit mit den Ukrainern zu zeigen, ging das deutsche Parlament nach Selenskyjs Rede schnurstracks zur Tagesordnung über, als gäbe es nichts wichtigeres zu besprechen als Geburtstagsglückwünsche für Bundestagsabgeordnete.
Schaut der Ukraine ins Gesicht!
Am Vorabend des russischen Angriffs wandte sich der ukrainische Präsident an das russische Volk: "Wenn Sie uns angreifen, werden Sie unsere Gesichter sehen. Nicht unsere Rücken, unsere Gesichter." Und ergänzte: "Sie verlieren Ihre Nächsten. Sie verlieren sich selbst." Genau das passiert seit dem 24. Februar.
Selenskyj betont immer wieder, dass die Ukraine anders sei als Russland – und jeder, der in den letzten zwanzig Jahren beide Länder bereiste, weiß das auch. Er sagt es zu den Ukrainern, um sie zu motivieren, zu den Russen, um gegen die Propaganda anzugehen, der sie ausgesetzt sind, und zu den Westeuropäern – hier vor allem den Deutschen, die nicht begreifen, dass es auch um ihre Freiheit geht. Er sagt es denen, die die Ukraine so anschauen, als sei sie ein kürzlich in unserem Zimmer aufgetauchter Fremder, der mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Draußen hinter ihm erstrahlt das vermeintlich vertraute Russland, und sie können das Gesicht des Gastes nur undeutlich erkennen. Macht doch endlich das Licht im Zimmer an, klärt Euch auf über die Ukraine, schaut ihr ins Gesicht!
Welcher Kompromiss?
Vor dem israelischen Parlament, der Knesset, zitierte Selenskyj die in Kyjiw geborene Golda Meir, von 1969 bis 1974 israelische Ministerpräsidentin, die 1967 angesichts des Sechstagekriegs gesagt hatte: "Wir wollen am Leben bleiben. Unsere Nachbarn wollen uns tot sehen. Da bleibt nicht viel Raum für einen Kompromiss." Und Selenskyj fügte hinzu: "Vermitteln lässt sich zwischen Staaten. Aber nicht zwischen Gut und Böse."
Das klingt plakativ. Und doch ist Selenskyjs Beharren auf Freiheit und Recht keine Phrase, sondern die aus bitterer Erfahrung geronnene Erkenntnis, dass ein Nachgeben gegenüber dem Aggressor nicht zu Frieden, sondern zu weiterem Unrecht führt.
Ethische Werte markieren den Unterschied
In der TV-Serie "Diener des Volkes" sagt der unverhofft zum Präsidenten gewählte Geschichtslehrer Holoborodko zu Ivan dem Schrecklichen: "Wir wollen alles demokratisch lösen.“ und: "Nein danke, wir müssen nicht befreit werden. Wir gehen einen anderen Weg. Wir gehören zu Europa."
Nichts anderes sagt im realen Leben der zum Präsidenten gewählte ehemalige Schauspieler Selenskyj – so auch in seiner Rede vom 23. Februar an die Russen: "Viele Länder unterstützen die Ukraine. Warum? Weil es nicht um Frieden um jeden Preis geht. Es geht um Frieden und um Prinzipien, um Gerechtigkeit. Um Völkerrecht und um das Recht auf Selbstbestimmung. Das Recht, seine Zukunft selbst zu gestalten."
Pathos ohne Floskeln
Selenskyjs Reden würden – wie gute Reden überhaupt – ohne Pathos nicht funktionieren. Aber dieses Pathos ist immer konkret. Weil das Menschliche konkret ist. Die Wahrheit ist konkret. Das Leben und der Tod. Wer Selenskyjs Rede vor der französischen Nationalversammlung gehört hat, wird nicht mehr vergessen, was er über die Frau sagte, die ukrainische Helfer schwerverletzt aus der Mariupoler Geburtsklinik bargen: "Sie hatte ein zerschmettertes Becken. Ihr Kind starb noch vor der Geburt. Die Ärzte versuchten, die Frau zu retten. Kämpften um ihr Leben! Doch sie bat die Ärzte um ihren Tod. Sie bat, sie sterben zu lassen, ihr nicht zu helfen. Weil sie nicht wusste, wozu sie leben sollte. Die Ärzte kämpften. Die Frau starb. In der Ukraine. In Europa. Im Jahr 2022. Als Hunderte von Millionen Menschen nicht einmal denken konnten, dass so etwas geschehen könnte, dass die Welt so zerstört werden könnte." In der Rede kommt er noch zweimal auf die Frau zurück. Er verdeutlicht damit, dass jeder Mensch, jedes Leben zählt. Er spricht über die Notwendigkeit einer neuen Sicherheitsarchitektur mit entsprechenden Garantien: "Damit niemand jemals wieder um seinen Tod bitten wird!"
Mit Logos überzeugen – und mit Mut
"Wir haben diesen Krieg nie gewollt. Aber er wurde zu uns gebracht", sagte Selenskyj am 7. März den ukrainischen Bürgern. "Wir haben nicht vom Töten geträumt. Aber jetzt müssen wir den Feind aus unserem Land und aus unserem Leben vertreiben."
Die Botschaft, hinter der Selenskyj alle Europäer wie die Ukrainer versammeln will, ist von Beginn an klar: Für das Leben, gegen den Tod – für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, gegen Terror, Diktatur und Willkür. Die Ukrainer ermutigt er, zusammenzustehen, einander zu helfen und gegen den Aggressor zu kämpfen; im Ausland wirbt er um Unterstützung – Waffen für die Ukraine, Sanktionen gegen Russland. Alle seine Reden sind Variationen auf dieses Thema, vereint als Europäer den ungerechten Krieg mit einem gerechten Frieden zu beenden.
Selenskyj ist präsent wie am ersten Tag des vollumfänglichen Krieges. Er weicht nicht, obwohl er Zielperson Nummer eins der russischen Aggressoren ist. Mit seinem Beispiel überzeugt er die Ukrainer möglicherweise noch mehr als mit seinen Reden. Aber in seinen Reden ist das Beispiel, das er gibt, für sie sichtbar, jede Nacht und jeden Tag.
Die Redenwerkstatt des Präsidenten
Immer wieder wird gefragt, wer eigentlich Selenskyjs Reden schreibe. Laut Guardian ist es der 38-jährige Journalist und frühere Politik-Analyst Dmytro Lytvyn. In einem Interview erklärte er: "Der Präsident weiß immer, was er sagen will und wie er es sagen will." Wichtigste Essenzen der Reden seien Emotionen und die Logik der Argumente. Der Politikwissenschaftler Ihor Todorov von der Universität Uzhhorod ergänzt, dass Selesnkyjs Ehefrau Olena viel mit dem leidenschaftlichen Ton der Reden zu tun habe. Außerdem seien weitere Mitarbeiter mit den Reden befasst, unter ihnen auch einer der Texter der Fernsehserie "Diener des Volkes", Yuri Kostyuk. Großartig die Szene in der dritten Folge der ersten Staffel, in der der neue Präsident (gespielt von Selenskyj) übt, Reden zu halten.
Als wirklicher Präsident brauchte Wolodymyr Selenskyj nicht zu üben. Er weiß aufzutreten, ist mit der Kamera und sozialen Medien vertraut und bedient sich ihrer souverän. Die Inhalte sind immer auf das jeweilige Publikum abgestimmt (auch wenn nicht alles immer gut ankommt). Der Redner beherrscht Tonlage und Timing. Er motiviert und schafft Identifikation, indem er deutlich mehr positive Wörter verwendet als negativ besetzte. Das Gesagte bleibt in Erinnerung, weil es mit Metaphern transportiert wird.
Mit seinen täglichen Videoansprachen an die Ukrainerinnen und Ukrainer, mit seinen viel beachteten Reden an ausländische Parlamente und internationale Gipfeltreffen prägt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine ganz eigene Kultur der Rede im Krieg: Präsenter als je ein Staatsoberhaupt, ringt er mit Worten um Unterstützung von außen und Ermutigung nach innen.
Rhetoriklehrer benutzen die Reden Selenskyjs schon jetzt als Unterrichtsmaterial. Und ich bin überzeugt, dass Historiker sie als eine wichtige Quelle zum Widerstand der Ukraine gegen die Aggression Russlands nutzen werden.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Webseite des "Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache" veröffentlicht: https://vrds.de/wir-haben-den-krieg-nicht-gewollt/.
...schließenEintrag vom 1.8.2022 WORKUTA-GEDENKTAG
Erinnerung an die blutige Niederschlagung des Streiks in Workuta am 1. August 1953.
In der Reihe der Aufstände gegen kommunistische Unterdrückung und Willkür gehört auch der hierzulande wenig bekannte Aufstand in Workuta. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kam es am 17. Juni 1953 in der DDR zum Volksaufstand. Selbst in der nord-östlichsten Stadt Europas, im 4.300 Km entfernten Workuta, keimte nach dem Tod des Diktators Hoffnung auf. Vor dem Hintergrund des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine, erhält dieser Gedenktag eine erschreckende Aktualität.
"Schieß doch, Tschekist!"
Von Horst SchülerIhr Todestag ist der 1. August 1953. Auch der Ort, an dem sie starben ist der gleiche, die Todesursache ebenfalls, und begraben wurde beide auf einem kleinen Friedhof in Workuta, was selten war damals, zumeist wurden die Toten irgendwo in der menschenleeren Tundra verscharrt, dort, wo keine Blume, kein Kreuz, kein Stein an sie erinnert. Und natürlich waren sie blutjung, als der Tod sie zu sich nahm, Wolfgang Jeschke, am 2. Februar gerade 21 Jahre alt geworden, Hans-Gerd Kirsche nur drei Jahre älter.
- Passfoto des 19jährigen Hans-Gerd Kirsche, 1949
Vorgeschichte
Anfang der fünfziger Jahre, Deutschland – ein geteiltes Land. In der Bundesrepublik begannen die Nachwehen des Krieges zu verblassen, in der DDR waren sie noch unübersehbar. Hans Gerd Kirsche, in Rittersgrün daheim, hatte sich bei der sowjetischen Wismut AG verpflichtet, die im Erzgebirge nach Uran für Atombomben schürfte. Er arbeitete dort als Erzhauer unter Tage. Die Bedingungen waren ungemein hart, die Arbeitsschutz-und Sicherheitsvorkehrungen miserabel. Darüber informierte er den West-Berliner Rundfunksender RIAS. Am 19. März 1951 wurde er von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet, am 16. August von einem Militärtribunal zu 25 Jahren verurteilt.Wolfgang Jeschke lebte im Ostteil Berlins, in Pankow, und arbeitete in einer Schneiderei. Warum er am 29. November 1950 von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und am 23. Januar 1951 vom Sowjetischen Militärtribunal 48420 zu 25 Jahren verurteilt wurde, ist unbekannt. Bekannt jedoch ist, daß Jeschke 1994 von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert und die gegen sie gefällten Urteile, weil aus politischen Gründen verhängt, aufgehoben wurden.
Nach der Verurteilung kamen beide nach Workuta. Daß sich dort eine der größten Strafregionen der Sowjetunion befand, mit mehr als dreißig Lagern, daß zu fast jedem Lager ein Kohlebergwerk gehörte, in dem die Häftlinge wie Sklaven schuften mussten, daß Hunger, Rechtlosigkeit und Verzweiflung ihre täglichen Begleiter waren, daß sie in einer Gegend lebten, die klimatisch zu den härtesten der Welt zählt, daß alles dort von Sträflingen erbaut wurde – geschenkt, geschenkt. An dieser Stelle ist oft genug darüber berichtet worden.
Wolfgang Jeschke und Hans-Gerd Kirsche landeten im Lager 10. Zu ihm gehörte der 29. Schacht. Das Lager 10 mit etwa 3000 Häftlingen war eines mit besonders strengem Regime. Ein Tag wie der andere: Knochenarbeit, drei Schichten, einen Kanten Brot, Wassersuppe, eine Kelle Kascha und alle zehn Tage ein Stück Zucker, manchmal Prügel, Kriminelle die eigentlichen Herren im Lager, blanke Hoffnungslosigkeit bei den anderen. So verstreichen die Jahre.
Der Tod des Tyrannen
Daß Stalin krank war, darüber gab es schon länger Vermutungen. Am 5. März 1953 dann Trauermusik über die Lagerlautsprecher, ein Sprecher mit getragener Stimme: „Der große Vater des sowjetischen Volkes, unser über alles geliebter Josef Wissarionowitsch Stalin ist heute gestorben.“ Jubel in allen Lagern. Endlich! Endlich hat ihn der Teufel geholt!Die Gerüchte folgten dem Jubel unmittelbar, jeden Tag ein neues. Von einer Überprüfung der Urteile wollten sie wissen, von Amnestie, von der Auflösung der Lager – und, und, und. Die Häftlinge ritten von einer Hoffnung zur anderen, doch alle erwiesen sich als trügerisch. Und wie das mit Hoffnungen so ist: Wenn sie sich nicht erfüllen, dann lauern schon Verbitterung und Zorn darauf, ihren Platz einzunehmen. Was haben wir denn noch zu verlieren, sagten sich die Häftlinge. Nein, sie hatten nichts zu verlieren als ihr armseliges Leben, das diesen Namen nicht verdiente.
Der Aufstand
Mitte Juli 1953 begann das erste Lager in Workuta zu streiken. Andere folgten, auch die Häftlinge im Lager 10 verweigerten die Arbeit. Es bildete sich ein Häftlingskomitee, dem auch Boris Kudrjawzew angehörte, ehemals Offizier der Roten Armee, aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohen, Führer einer Partisaneneinheit, dennoch 1947 verhaftet, zu 25 Jahren verurteilt, Häftlingsnummer SI-491. "Wenn nötig, dann machen wir aus dir einen japanischen Götzen", hatte ein Verhöroffizier höhnisch zu ihm gesagt. "Das Komitee unterband die Arbeit im Bergwerk, nur eine Brigade, die Wassereinbrüche oder Explosionen im Schacht verhindern sollte, durfte einfahren", erinnerte sich Boris Kudrjawzew in einem Bericht der Zeitung "Ural". Und weiter: "Im Lager sorgte das Komitee für mustergültige Ordnung. Wir befreiten die Häftlinge aus dem Strafisolator, untersagten den Wachmannschaften das Betreten des Lagers, verboten vor allem jegliche Gewalt." Was als Streik begann, nahm schnell die Züge eines Aufstandes an. Auf den Dächern der Baracken schrieben die Häftlinge Freiheitsparolen. Als General Derewjanko, Chef der Lagerverwaltung Workuta, sie zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen sollte, wurde ihm das Wort entzogen. Das Komitee verlangte die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Rückkehr der Ausländer in ihre Heimat und Garantien für Straflosigkeit aller am Aufstand Beteiligten. Verhandeln würde man nur mit einer kompetenten Delegation aus Moskau. Dort war das Ringen um die Nachfolge Stalins noch nicht beendet. Vermutlich wurde auch deshalb nicht mit der sonst üblichen Gewalt gegen die Aufständischen in Workuta vorgegangen.Am 30. Juli erschien unter der Führung von Armee-General Maslennikow und Oberjustizrat Samochin, Stellvertreter des Generalstaatsanwalts Rudenko, der in Moskau die Anklage gegen den verhafteten Geheimdienstchef Berija vorbereitete, eine Delegation im Lager 10. Aus der Menge, der auf dem Appellplatz versammelten Häftlinge erhob sich der frühere Oberst Sylko, und es folgte ein Austausch, an den sich Boris Kudrjawzew so erinnerte: Sylko sagte, "Erkennen Sie mich, Bürger General? Ich bin Oberst Sylko." Maslennikow: "Ich bin nicht mit Volksfeinden und Vaterlandsverrätern bekannt." Darauf Sylko: "Erinnern Sie sich, als unsere Division eingekesselt war. Ich geriet verwundet in Gefangenschaft, und deshalb bin ich hier Häftling. Sie haben damals Ihre Division feige verlassen. Ein Kommandeur verlässt wie ein Schiffskapitän als letzter seine Einheit. Wer ist denn nun von uns der Verräter, du gemeiner Kerl?!" Maslennikow schrie "Provokation" und verließ zornentbrannt mit seiner Delegation das Lager. Vermutlich hat er dann nach Rücksprache mit Moskau die Genehmigung erhalten, den Aufstand mit Gewalt zu beenden.
Der 1. August
Bereits in den Tagen zuvor hatten man vor dem Lager 10 Maschinengewehre und Granatwerfer in Stellung gebracht und die Wachtürme verstärkt. In der Nacht zum 1. August waren Truppen aus dem Quartier Severnij herangeführt worden, unter ihnen auch I. Tichomirow, Fahrer eines Lkw. Später, als Pensionär, erinnerte er sich: "Überall hingen Transparente – Dem Land die Kohle, uns die Freiheit! Aus dem Lager hörten wir: Kommt zu uns, Unversehrtheit garantieren wir euch!"Der Morgen des 1. August. Lager 10 war von Soldaten umstellt, eine Kompanie schußbereit vor dem Tor. Auf der Lagerstraße die Häftlinge, an ihrer Spitze die Mitglieder des Komitees. "Habt keine Angst, Brüder", sagte einer, "sie werden nicht schießen!"Über Lautsprecher kam die barsche Aufforderung, innerhalb weniger Minuten den Aufstand zu beenden und die Arbeit wieder aufzunehmen. Die Häftlinge hakten sich ein, rückten langsam vor. Hinter dem Tor standen General Maslennikow und seine Begleiter. "Wir wollen Freiheit", riefen ihnen die Häftlinge zu. Plötzlich öffnete sich das Lagertor für einen Offizier, Major Frolow, wie sich später herausstellte. Ein Häftling aus der ersten Reihe riss seine Jacke auf und schrie ihm entgegen: "Schieß doch, Tschekist!" Darauf fiel ein Schuß, der Häftling brach zusammen. Sekunden später das Inferno, die Soldaten hatten Feuerbefehl erhalten.
Es waren die letzten Sekunden im Leben von Wolfgang Jeschke und Hans-Gerd Kirsche. Und es waren die letzten Augenblicke im Leben von 62 anderen Häftlingen. 123 weitere Gefangene wurden schwer verwundet, unter ihnen zwölf Deutsch. Manche überlebten nur durch die schnelle Hilfe von Häftlingen mit medizinischer Vorbildung. Andere verbluteten, während ihre Kameraden aus dem Lager getrieben wurden. Einen Tag später nahmen alle Lager die Arbeit auf. Workuta lieferte wieder Kohle. Und der brutale Alltag der Häftlinge begann wieder. Ende eines Aufstandes wehrloser, seit Jahren geschundener Menschen. Ende einer Tragödie, von der die Welt keine Notiz nahm.
Die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion wird an Wolfgang Jeschke, Hans-Gerd Kirsche und die mit ihnen erschossenen 62 politischen Häftlinge erinnern. Und sie wird eines vergeblichen Aufstandes mehr gegen Tyrannen gedenken.
Zuerst veröffentlicht im STACHELDRAHT, Ausgabe Nr. 5/2013
Die Toten vom Lager 10/Schacht 29, erschossen am 1. August 1953
- ANDRUSSISCHIN, Dmitri Iwanowitsch, 28 Jahre, Ukrainer
- BARNATAWITSCHUS, Awgustinas, 41 Jahre, Litauer
- BATSCHINSKI, Josif Adolfowitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- BELJAWSKI, Wassili Iwanowitsch, 27 Jahre Weißrusse
- BOTSCHEWSKI, Jaroslaw Michailowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- DMITRIK, Stach Ignatowitsch , 48 Jahre, Ukrainer
- DOWBYSCH, Wladimir Grigorjewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- DUMA, Fjodor Stepanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- FESCHTSCHUK, Miroslaw Nikolajewitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- GAWTSCHAK, Anton Lukjanowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- GERTSCHISCHIN, Michail Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- GILEZKI, Wassili Iljitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- GOWDA, Jaroslaw Wassiljewitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- GUK, Wassili Semjonowitsch, 38 Jahre, Ukrainer
- IGNATOWITSCH, Witold Antonowitsch, 24 Jahre, Pole
- JANOWITSCH, Juri Iwanowitsch, 37 Jahre, Ukrainer
- JESCHKE, Wolfgang, 21 Jahre, Deutscher
- KAJRIS, Kasis, 36 Jahre, Litauer
- KASANAS, Afanasius, 55 Jahre, Litauer
- KATAMAJ, Wladimir Wassiljewitsch, 24 Jahre, Ukrainer
- KILBAUSKAS, Atanas, 30 Jahre, Litauer
- KIRSCHE, Hans-Gerd, 24 Jahre, Deutscher
- KLASSEN, Juri Teodorowitsch, 37 Jahre, Este
- KOSTIW, Michail Wassiljewitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- KUKK, Karl Jochannessowitsch, 34 Jahre, Este
- LAJZONAS, Alfonassas, 25 Jahre, Litauer
- LEWKO, Iwan Petrowitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- LINNUK, Pjotr Jegorowitsch, 47 Jahre, Este
- LUKANJEZ, Wladimir Pawlowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- MARSCHALOK, Michail Petrowitsch, 43 Jahre, Ukrainer
- MARTINAWITSCHUS, Witolus, 24 Jahre, Litauer
- MENDRIKS, Janis Antonowitsch, 49 Jahre, Lette
- MIKOLISCHIN, Jemeljan Stepanowitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- MITROGAN, Jaroslaw Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- MILKAUSKAS, Wazlowas, 28 Jahre, Litauer
- OCHAKAS, Juri Juchanowitsch, 45 Jahre, Este
- OLCHOWITSCH, Wladimir Kondratjewitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- PANSCHTSCHENJUK, Jakow Wassiljewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- PETERSONS, Elmars, 28 Jahre, Lette
- PETRUNIW, Josif Grigorjewitsch, 33 Jahre, Ukrainer
- POWROSNIK, Konstantin Saweljewitsch, 26 Jahre, Ukrainer
- PUKIS, Josas, 23 Jahre, Litauer
- SAKOWITSCH, Wladimir Aleksandrowitsch, 44 Jahre, Pole
- SCHKODIN, Stefan Iwanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- SCHMID, Karl, 48 Jahre, Österreicher
- STRUZ, Wassili Ostafewitsch, 21 Jahre Ukrainer
- TSCHECHAWITSCHUS, Mikolas, 34 Jahre, Litauer
- TSCHEPEGI, Iwan Iwanowitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- TSCHERJOMUCHA, Stepan Potapowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- TSCHERNEZKI, Bogdan Stanislawowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- TSCHUNIS, Semjon Gawrilowitsch, 46 Jahre, Ukrainer
- WELITSCHKO, Edwardas, 24 Jahre, Litauer
- WISOZKI, Igor Wladislawowitsch, 35 Jahre, Russe
- Hedeler, Wladislaw/Hennig, Horst (Hg.):
Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipzig (Universitätsverlag) 2007. - Wiemers, Gerald (Hg):
Der Aufstand. Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29. In Zusammenarbeit mit der "Lagergemeinschaft Workuta/GULag", Leipzig (Universitätsverlag) 2013.
Auswahlliteratur
Eintrag vom 10.7.2022 KARL HEINZ VOGELEY IST TOT
Am 25. Juni 2022 verstarb Karl Heinz Vogeley in Alter von 93 Jahren in Haldensleben.
Ein Nachruf von Meinhard Stark
- Karl Heinz Vogeley, 2001
Karl Heinz Vogeley wurde am 28. Februar 1929 in Haldensleben bei Magdeburg geboren. Der Vater war in verschiedenen Berufen tätig, seine Mutter Hausfrau. Die Familie war tief in der Gemeinde der Neuapostolischen Kirche verwurzelt. Karl Heinz besuchte die Mittelschule und war Mitglied im Jungvolk der Hitlerjugend. Im April 1945 wurde die Stadt von den Amerikanern befreit. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Juli 1945 hatten sich 12 ehemalige Angehörige des Jungvolks auf der sowjetischen Kommandantur zu melden, darunter Karl Heinz. Dies bedeutete ihre faktische Inhaftierung. Überführt nach Erxleben, dem Stab der zuständigen Militäreinheit, wurde der 16-Jährige schweren Verhören mit physischer Folter ausgesetzt. Im November 1945 verurteilte ein Sowjetisches Militärtribunal die angeklagten Jugendlichen wegen angeblicher Terrorakte sowie der Beschädigung von Eisenbahnen, Transport- und Fernmeldeeinrichtungen in organisierter Form – trotz Widerrufs ihrer erzwungenen Aussagen – zu Strafen zwischen 10 und 20 Jahren Besserungsarbeitslager. Karl Heinz erhielt 15 Jahre.
Über Frankfurt/Oder, Brest-Litowsk und Kotlas deportierte man die Minderjährigen in ein Lager südlich von Workuta, am Polarkreis. Dort leistete Karl Heinz Zwangsarbeit im Gleisbau und bei der Schneeräumung. Im Herbst 1948 wurde er in das Straflager Dscheskasgan in Kasachstan verlegt. Dort musste der Gefangene eine Häftlingsnummer tragen und in Kupferminen unter Tage schuften. 1951 gelang es ihm, die Arbeit als Brotschneider einzunehmen.
Am 17. Juni 1953 ging er in Richtung Westen auf Transport und gelangte in das Entlassungslager Tapiau im Gebiet Kaliningrad, vormals Ostpreußen. Der eigentliche Rücktransport begann am 22. Dezember und endete mit seiner Ankunft in Haldensleben am 28. Dezember 1953. Acht Jahre und sechs Monate Lagerhaft lagen hinter Karl Heinz, ohne dass er ein Lebenszeichen von sich geben konnte. Zuhause erwartete ihn der Vater; die Mutter war einige Monate zuvor aus Gram verstorben.
Ein Vierteljahr suchte der Heimkehrer vergeblich Arbeit. Trotz mittlerer Reife wollte ihn niemand einstellen, bis er schließlich eine Anstellung als Hilfsarbeiter in der Hofkolonne eines Handelsbetriebes bekam. Er erwarb den Facharbeiterbrief eines Großhandelskaufmanns und stieg aufgrund hervorragender Arbeitsleistungen über die Jahre bis zum Handelsleiter und stellvertretenden Direktors des Betriebes auf. 1991 ging Karl Heinz Vogeley in Pension.
Er war seit 1956 mit seiner Ehefrau Ilse verheiratet und hat zwei Töchter und einen Sohn. Die Jahre in der DDR beschrieb Karl Heinz in seinem Gedicht mit folgenden Worten: "Sind die Ketten auch in Workuta geblieben / ungehindert ließ man uns auch hier nicht gehen. / Wir konnten nicht bestimmen, wurden nur getrieben / viele Repressalien waren für uns ausersehen. / Am Rande der Gesellschaft mussten wir das Dasein fristen / unser Haupt das hielten weiter wir gesenkt. / Nun regieren nicht mehr Bonzen, sondern Christen / ob wohl einer an unsere Rehabilitierung denkt? / Lange genug sind wir gedemütigt, gekrochen / unser Stolz ist noch immer nicht gebrochen."
1995 erfolgte seine Rehabilitierung durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation. Karl Heinz Vogeley ist am 25. Juni 2022 im Kreise seiner Familie friedlich eingeschlafen. Vor seiner Lebensleistung verneige ich mich tief, meine Gedanken und meine Trauer sind bei den Angehörigen, insbesondere seiner lieben Frau Ilse. In meinen, in unseren Erinnerungen wird Karl Heinz immer einen gebührenden Platz einnehmen.
Meinhard Stark, Berlin im Juli 2022
Auf der Seite der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur befindet sich ein biographischer Podcast mit Dokumentation über Karl Heinz Vogeley: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/archiv/gulag-zeitzeugenarchiv/karl-heinz-vogeley.
...schließenEintrag vom 9.7.2022 LETZTE ADRESSE
Am Freitag, den 8. Juli 2022 wurde die insgesamt 4. Gedenktafel "Letzte Adresse" in Deutschland angebracht. Gedacht wurde Fritz Storch, der am 4. Juli 1951 in Moskau erschossen wurde. Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitierte ihn posthum am 29. März 1999.
Am Freitag, den 8. Juli 2022 wurde für Fritz Storch (*1899, Stettin/Pommern +1951, Moskau) an seiner letzten Wohnanschrift in der Mengerzeile 8 in Berlin-Treptow eine Gedenktafel angebracht. Dank der Initiative des Bezirksbürgermeisters Oliver Igel konnte mit Hilfe von Nikolai Ivanov und Mario Bandi (Stiftung „Letzte Adresse“) und Anke Giesen (Memorial Deutschland) die Gedenktafel "Letzte Adresse" für Fritz Storch nun 71 Jahre nach seinem spurlosen Verschwinden und seiner Hinrichtung angebracht werden. Die erste in Berlin, die vierte in Deutschland. Etwa 50 Personen waren bei dieser Gedenkveranstaltung anwesend. Tom Sello (Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur), Oliver Igel (Bezirksbürgermeister und Initiator) und Dieter Dombrowski (Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft) sprachen die Grußworte. Die Enkeltochter von Fritz Storch Jutta Jaeger hielt eine bewegende Rede, die mit ihrer Genehmigung hier abgedruckt ist.
"Sehr geehrte Frau Damen, sehr geehrte Herren, liebe Familie,
Für die heutige Veranstaltung, die Würdigung meines Großvaters Fritz Storch mit der Anbringung der Erinnerungstafel möchte ich mich – im Namen meiner gesamten Familie – ganz herzlich bedanken bei der Stiftung "die letzte Adresse", Memorial und dem Bezirk Treptow-Köpenick sowie allen weiteren Beteiligten. Sie alle haben durch ihre Initiative, die umfangreichen Recherchen und die nicht ungefährliche Beschaffung der Tafel aus Moskau es ermöglicht, die Erinnerung an Fritz Storch wach zu halten und der Familie einen Ort des Gedenkens zu geben.
Das Unrecht, das meinem Großvater widerfahren ist, ist kein Einzelschicksal. Wie wir im Besonderen aus den Nachforschungen, die dem Buch "Erschossen in Moskau" zu Grunde liegen, wissen, betraf es allein in der Zeit Stalins Tausende. Von diesen Opfern weiß bis heute kaum jemand. Das ist mir zumindest hier in meinem persönlichen Umfeld immer wieder aufgefallen. Es bedeutet mir deshalb viel, dass dieser Umgang mit Menschen publik gemacht wird und dafür eine Öffentlichkeit geschaffen wird. Leider ist ein solches Vorgehen zu jeder Zeit in irgendeinem Land auf der Welt aktuell, so auch heute. Menschen verschwinden, werden gefoltert und ermordet und Familien bleiben im Unklaren über das Schicksal ihrer Angehörigen.
So erging es meiner Großmutter, meiner Mutter und ihrer Zwillingsschwester. Sie mussten lange Zeit in der Ungewissheit über den Verbleib ihres Ehemannes und Vaters leben.
Am 27. Januar 1951 wurde Fritz Storch um 6 Uhr morgens nach einer Hausdurchsuchung hier in der Mengerzeile durch den Staatssicherheitsdienst verhaftet. Meine Großmutter versuchte in den folgenden Wochen alles, um etwas über seinen Verbleib herauszufinden. Sie suchte Polizeidienststellen und Gefängnisse auf – ohne Erfolg. Als sie selbst kurz vor Ostern desselben Jahres vom NKWD (sowjetisches Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) einem fünfstündigen Verhör unterzogen wurde und erfuhr, dass ihre Tochter als Spionin verdächtigt wird, floh sie am Ostersamstag mit ihren Töchtern nach Westberlin, wo sie als politische Flüchtlinge Anerkennung fanden.
Im Jahr 1954 meldete sich ein Zeuge, der mit Fritz Storch in Karlshorst inhaftiert gewesen war, und teilte meiner Großmutter mit, dass ihr Mann vermutlich zum Tode verurteilt worden war, weil er nachdem er dem sowjetischen Militärtribunal vorgeführt worden war, nicht wieder zu den anderen in die Zelle zurück kam, was nach Todesurteilen üblich war.
Erst 48 Jahre nach dem Verschwinden ihres Vaters erhielt meine Mutter im Jahr 1999 die Nachricht über seinen Tod durch Erschießen am 4. Juli 1951 und ein Schreiben über seine Rehabilitierung. Es half ihr, ein Stück weit mit dem Erlebten abzuschließen.
Ihre Mutter und Schwester waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben und haben nie erfahren, was mit ihm geschehen ist.
Bedingt durch die Verdrängung ihrer traumatischen Erlebnisse konnten sie lange Zeit nicht über ihren Ehemann und Vater und die Umstände seines Verschwindens sprechen. So haben wir insgesamt 6 Enkel unseren Großvater nicht nur nie kennengelernt, sondern auch nicht viel über ihn und seine Persönlichkeit erfahren können. Für mich ist an dieser Stelle immer so etwas wie ein schwarzes Loch geblieben und es war mir unmöglich, ein persönliches Bild von meinem Großvater zu generieren.
Fritz Storch unser Vater, Großvater und Urgroßvater liegt, wie wir heute wissen, auf dem Friedhof Donskoje in Moskau. Für seine Angehörigen gab es nie einen Ort des Gedenkens. Nun haben Sie haben uns mit dieser Tafel einen solchen Ort geschaffen, danke dafür."
Jutta Jaeger
Die Angehörigen des Fritz Storch: Katja (Urenkelin), Jutta Jaeger (Enkelin), die Tochter des Fritz Storch, Lina (Urenkelin) und Susanne (Enkelin) (v.l.n.r.)
https://www.letzteadresse.de/fritz-storch/
Liste der Gedenktafel:
Für Heinz Baumbach, am 30.8.2019 in Treffurt
Für Helmut Sonnenschein, am 17.7.2020 in Naumburg
Für Ludwig Kracke, am 18.9.2020 in Dahme
Eintrag vom 17.6.2022 OFFENER BRIEF
Vom 17. Juni 1953 bis heute: Die fortwährende Aggression des Kremls gegen die Freiheit.
Ein offener Brief an die Regierende Bürgermeisterin von Berlin Giffey.
Von Stefan Krikowski
Sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin Giffey,
wir können heute nicht den Opfern der Niederschlagung des Volksaufstands des 17. Juni 1953 gedenken, ohne die Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine zu erwähnen.
Wir können heute nicht den damaligen Aufstand gegen die SED-Diktatur würdigen, ohne uns zu schämen, wie Berlin mit hiesigen Protestaktionen gegen die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine umgeht.
An diesem Tag, dem 17. Juni, erinnern wir uns an die Menschen, die vor 69 Jahren in der DDR gegen die Politik der SED aufbegehrten. Und wir erinnern uns daran, wie dieser Volksaufstand von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Diese Panzer wurden vom Kreml befehligt. Lange durften wir meinen, der Aufstand vom 17. Juni 1953 habe sein glückliches Ende im Mauerfall vom 9. November 1989 gefunden. Heute sind wir Zeugen, wie erneut der Kreml seine Panzer schickt, diesmal um eine freie und friedliebende Nation, die Ukraine, zu vernichten. Fassungslos sehen wir Bilder der Zerstörung, Vernichtung und der tausendfachen Kriegsverbrechen.
Am 22. Juni 1953 beschloss der West-Berliner Senat zum Gedenken an die Opfer des Arbeiteraufstandes in Ost-Berlin und der DDR, die Achse zwischen dem heutigen Ernst-Reuter-Platz und dem Brandenburger Tor in "Straße des 17. Juni" umzubenennen. Am 4. August 1953 erklärte die damalige Bundesregierung den 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" zum gesetzlichen Feiertag. Bis 1990 war der 17. Juni bundesweiter Feier- und Gedenktag.
Östlich des Brandenburger Tors, an der Verlängerung der Straße des 17. Juni liegt die Russische Botschaft ("Unter den Linden"). Seit dem jüngsten russischen völkerrechtswidrigen Angriffs-und Vernichtungskrieg auf die Ukraine finden hier häufig Proteste statt.
Auf dem Mittelstreifen vor der russischen Botschaft in Berlin standen bis zum 13. April u.a. folgende Gedenk- und Protestelemente: Ein Baustellenschild mit dem Namensschild "W. Selenskyj Platz 1" und ein anderes mit dem Namen "Freedom Square". Dazwischen waren zwei Seile gespannt mit acht DIN A2 großen laminierten Farbplakaten.
Die Plakate hingen seit dem 8. April zwischen den zwei Pfosten, nachdem sie zuvor von den Absperrgittern entfernt wurden. Die Plakate wurden am 13. April 2022 zum zweiten Mal entfernt zusammen mit den übrigen Protestelementen. Den Mittelstreifen vor der Botschaft säuberte man von allen Zeichen des Protestes. Kerzen, Blumen, Plakate, alles wurde entsorgt. Auch die 134 Paar Kindersocken - aufgehängt an einer Leine zwischen zwei Bäumen -, die an die Zahl der bis dahin getöteten ukrainischen Kinder erinnerten, wurden entsorgt, ebenso Fotos von den Gräueltaten der russischen Armee in Butscha oder in Mariupol.
Es wirkt, als sei es in Berlin politisch nicht erwünscht, dass vor der russischen Botschaft Zeichen des Protestes sichtbar sind. Sie wird von Protesten abgeschirmt: Nicht nur ist der Bürgersteig vor der Botschaft mit Absperrgittern nicht länger begehbar, Absperrgitter stehen auch auf dem Mittelstreifen, noch vor den Bäumen und den Bänken. Und nun wurde auch der Fußgänger-Mittelstreifen geräumt. Wer hat diese "Säuberung" veranlasst? Es gab keine Hinweise auf eine Zerstörung, sondern auf ein großes Reinemachen. Nichts, aber auch nichts ist liegengeblieben.
Auf wiederholtes Nachfragen beim Polizeiabschnitt 28 (Alt-Moabit 145) konnte man uns keine Auskunft geben. Am 19. April 2022 stellten wir eine Strafanzeige gegen Unbekannt. Am 3. Mai 2022 antwortete die Amtsanwaltschaft Berlin, dass von der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen abgesehen wurde. Die Protestelemente seien im Rahmen eines "Ordnungswidrigkeitsverfahrens wegen Verstoßes gegen das Berliner Straßengesetz im Auftrag der Polizei Berlin durch Mitarbeiter der BSR entfernt" worden.
Als Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion setze ich mich dafür ein, das Unrecht des Kommunismus zu dokumentieren, indem ich die Biografien derjenigen politischen Häftlinge festhalte, die von einem Sowjetischen Militärtribunal in der Sowjetischen Besatzungszone oder in der frühen DDR unrechtmäßig zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden und die diese in einem Straflager – vorwiegend im Lagerkomplex Workuta - in der Sowjetunion verbüßen mussten.
Dass die Hauptstadt des glücklich wiedervereinigten Deutschlands hiesige Proteste gegen die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine als "Ordnungswidrigkeit" einstuft und die Gegenstände als Müll entsorgt, erfüllt mich mit Entsetzten und Abscheu. Viele Berliner, ebenso Touristen und auch geflohene Ukrainer, blieben vor den Protestplakaten stehen und waren dankbar für diese öffentlichen Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Die Berliner "Säuberung" ist ein schäbiger Akt, im Auftrag der Polizei und durchgeführt durch die BSR. So eine Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten wäre in den osteuropäischen Hauptstädten Warschau, Prag, Tallin, Riga oder Vilnius unvorstellbar.
Mit freundlichem Gruß,
Stefan Krikowski
Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion
Mitglied in der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG)
Eintrag vom 19.4.2022 STOPPT RUSSISCHE KRIEGE
Am Karsamstag, 16. April 2022 fand auf dem Berliner Bebelplatz eine Gegendemonstration zum traditionellen Ostermarsch statt unter dem Motto "Stoppt russische Kriege". Veranstalter waren u.a. die Allianz Ukrainischer Organisationen und Vitsche Berlin. Einer der Redner war der Dokumentarfilmregisseur Marcus Welsch. Sein Redemanuskript hat er uns freundlicherweise zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Seine tatsächlich gehaltene Rede wich an manchen Stellen vom Manuskript ab.
"Wir treffen uns an diesem Tag, weil uns alle die Überzeugung eint, für die Befreiung der Ukraine von diesem Vernichtungskrieg Russlands einzutreten. Wenn ich hier spreche denke an meine Freunde in Kharkiv, die jede Nacht in die Luftschutzbunker rennen müssen, an die Musiker dort, die in der Metro oder vor den Trümmern ihrer Studios zu Konzerten auftreten und speziell an meinen Freund und seine Familie, dessen Vater all die Tage in Mariupol ausharren musste - alleine mit 84 Jahre.
Wir wollen, dass dieser russische Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Dafür treten wir ein. Koste es, was es wolle. Das werden wir nicht mit Gebeten und frommen Friedensappellen hinbekommen, sondern nur mit einer noch besseren, viel umfangreicheren Zusammenarbeit aller, die diesen Wahnsinn russischer Kriegsführung stoppen wollen. Verkürzt gesagt, was braucht die Ukraine: 1. Waffen, 2. Waffen und 3. Waffen. Wie man der ukrainischen Armee in ihrer schwierigen Situation am besten helfen kann, wissen Fachleute besser. Aus Deutschland wird nicht viel kommen, weil wir seit zwei Jahrzehnten so tun, als gäbe es keine Bedrohung aus dem Osten. Es gibt aber viel Know-How und industrielle Kapazitäten, um weit mehr als aus den bescheidenen Bundeswehrdepots zu liefern und zu produzieren. Wenn das jetzt weiter verschleppt wird, wird man das auch in den Geschichtsbüchern wiederfinden. Und an die größte Bundestagsfraktion gerichtet: wenn Ihr immer noch nicht bereit seid, die Beendigung des Krieges so schnell wie möglich mit allem - mit allem Menschenmöglichen - zu unterstützen, dann geht besser in die Opposition und überlasst das Schicksal Europas, das in diesem Krieg mitbestimmt wird, verantwortungsbereiteren Politikern.
Wir können diesen Krieg nur beenden, wenn alle an einem Strang ziehen. Dazu gehören selbstverständlich weitere Sanktionen und zwar in einem Ausmaß, der den Aktionsradius des Regimes in Moskau maximalst eindämmt und es handlungsunfähig macht. Denn mit dem bestehenden Russland wird es keinen Frieden geben können.
Es ist so umso befremdlicher, dass die - nennen wir sie "alte Friedensbewegung" - heute zu einer Demonstration mit Parolen aufruft, die direkt aus der Feder des Kremls stammen könnten. Kurz: Kritik an der Nato und den östlichen Nachbarländern der EU, die diesen Schutz suchen - sowie eine Verdrehung der Kriegslogik. Wer das Recht auf Selbstverteidigung und die militärische Solidarität unserer Nachbarstaaten in der EU und der Ukraine in Abrede stellt, macht sich zum Gehilfen der zynischen Kriegspolitik Russlands. Das ist nicht hinnehmbar und von einer Arroganz geprägt, dass diese Parolen nur schwer zu ertragen sind. Ich habe nicht verstanden, warum die Veranstalter der großen Friedensdemonstrationen seit Beginn dieses Krieges, die ukrainischen Sprecherinnen nicht ausführlicher reden lassen wollten bzw. diese nicht großzügiger eingeladen haben. Vermutlich würden die einfache Beschreibung dieses Krieges und die Frage, was das Leid der Ukrainer verhindert hätte, die alten Glaubenssätze dieser "Friedensbewegung" aus den Angeln heben.
Wir kommen jetzt in eine Phase des Krieges, die allen noch viel mehr abverlangt. Das betrifft in erster Linie die ukrainischen Bürger und ihre Unterstützer, die dieses Land verteidigen. Sie tun dies auf eine Art und mit einem Mut, wofür mir die Worte fehlen. Ich habe in den letzten Jahren erst auf den Reisen durch den Donbass verstanden, was diese Armee dort eigentlich leistet. Es geht schlicht um die Existenzsicherung einer friedfertigen und freiheitsliebenden Gesellschaft. Stattdessen predigt so mancher Pfarrer und "friedensbewegter" Mitbürger einen Pazifismus oder fordert auf naive Wiese Verhandlungen, die es in dieser Situation schlicht nicht geben kann. Denn warum sollte Putin in seinem Wahnsinn einfach klein beigeben, wenn er doch die Ukraine vernichten will? Gerade als Deutscher sollte einem dieser Vernichtungswille zu denken geben. Angesichts dessen ist Pazifismus schlicht Zynismus.
Ich habe mich in meiner Jugend ebenfalls für einen radikalen Pazifismus eingesetzt und ich weiß, dass es Zeit braucht um einzusehen, dass diese naiven Forderungen in eine tödlichen Sackgasse enden können. Man kommt an dem Realitätscheck nicht vorbei: So lange grundlegende Menschenrechte nicht garantiert sind, sollte man sich die Forderungen nach einem pauschalen Pazifismus verkneifen. Ein befreundeter ukrainischer Publizist hat es auf den Punkt gebracht: Pazifismus ist eine feine Sache, wenn man in den Alpen wohnt. Aber welcher deutscher Pazifist traut sich morgen in die Region zwischen Kharkiv, Saporischschja und Mariupol zu fahren, und diese Weltanschauung dort zu praktizieren?
Vermutlich fehlt uns Deutschen manchmal auch einfach die Einsicht, dass Freiheit nicht ein Automatismus ist, der einem quasi gratis bei der Geburt - mit lebenslangem Garantierecht - zuteilwird, sondern außerhalb der sicheren Gefilden Europas oft bitter erkämpft werden muss. Gerade unsere Freunde in Belarus und in Syrien können davon erzählen. Selbstverständlich gehören dazu alle Länder, die sich mit klaren Motiven aus der Umklammerung der ehemaligen Sowjetunion und ihrem patriarchalen Machtanspruch gelöst und sehr selbstbewusst ihren Eigenständigkeit behauptet haben. Den Menschen dieser Länder gilt natürlich genauso unsere Solidarität, ganz zu schweigen von den mutigen Aktivisten in China und Hong Kong. Es wäre gut, wenn diese Mitbürger in die deutschen Talkshows genauso eingeladen würden, um von ihrer Sicht auf diese deutsche Selbstbezogenheit zu erzählen.
Unsere Aufmerksamkeit in den nächsten Woche gehört natürlich ganz besonders den Bürgern der Ukraine, die bei uns oder in anderen Teilen Europas Sicherheit suchen - und die sich jeden Tag fragen, wie sie ihrer Familie, ihren Freunden und dem Land, dessen Existenz auf dem Spiel steht, helfen können. Ihnen muss unsere Unterstützung jetzt erst recht zu Teil werden. Unterkünfte organisieren, verschämte Zweitwohnungsbesitzer ansprechen, Nachbarschaftshilfe, Arztbesuche und Behördengänge begleiten und den besonders hilfsbedürftigen Menschen zur Seite stehen. Es gibt 100 Optionen, die jeder umsetzen kann.
Es gibt aber noch ein grundsätzlicheres Problem auf das ich etwas ausführlicher hinweisen möchte. Als Dokumentarfilmer, der sich viel mit dem 2. Weltkrieg - auch in der Ukraine - beschäftigt hat, stolpere ich bei der alten Friedensbewegung immer wieder über ein krudes Geschichtsbild, das ausgerechnet die Länder und ihre Geschichte, in denen der deutsche NS-Krieg am meisten Opfer gekostet hat, besonders ignoriert: Das sind Polen, die Ukraine und Belarus.
Was auch immer diesen Verdrängungskomplex in Deutschland ausmacht: es rächt sich bitterlich, dass hierzulande das Wissen über die geschichtlichen Hintergründe dieser Länder sehr dünn ist. Zu der Region, die unsere größere Aufmerksamkeit verdient, gehören natürlich auch die baltischen Länder, wo man übrigens schon früh auf die Gefahr Russlands hingewiesen hat. Allein, die Warnungen aus diesen Ländern, insbesondere aus Polen - und zwar schon vor der Regentschaft der PiS - hat die deutschen Politiker kaum interessiert. Dabei hat der erste russische Angriff im hybriden Format, inklusive dem propagandistischen Aufriss auf dem Feld der Geschichte, bei den Unruhen in Tallin/Estland im April 2007 quasi als Testlauf stattgefunden. 2014 wurde im Donbass dann das gleiche Szenario im größeren Stil durchgeführt - mit den bekannten Folgen. Was mich unruhig macht: In Deutschland zeigte sich im vergangenen Sommer nur ein kleiner Kreis über die Geschichtsfälschungen in Putins Essay mit seinen kruden Thesen zur ukrainischen Geschichte und Nation alarmiert. Jetzt weiß man, zu was so eine Weltsicht führen kann. Es würde mich allerdings wundern, wenn nicht in ein paar Wochen - mit oder ohne Querdenker - die ein oder andere Parole aus der propagandistischen Giftküche des Kremls auch hier wieder salonfähig wird. Denn das Grundübel, das bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft reicht, ist schlicht die Unkenntnis und leider auch das Desinteresse an der Geschichte und den speziellen Sorgen der Länder, die in direkter Nachbarschaft zu Russland leben.
Die fatale, tödliche Achse Berlin-Moskau scheint erst einmal erledigt zu sein. Sie hat Jahre lang zu sehr die Politik Deutschlands geprägt. Auf ihr konnte der derzeitige russische Präsident gelassen seinen Krieg vorbereiten. Wenn 2022 tatsächlich eine Wende sein soll, dann nur mit einer fundamentalen Beschäftigung, was auf diesem Feld schief gelaufen ist. Das wäre die minimale Bringschuld gegenüber denen, die uns vergeblich vor dem russischen Imperialismus gewarnt haben.
Ich würde allerdings den Spieß - optimistisch gewendet - umdrehen und sagen, nie waren die Motivlagen günstiger als jetzt, sich ausgiebig mit der Kultur, der Geschichte, vor allem aber mit den vielschichtigen Bedürfnissen unserer Nachbarn neu auseinander zu setzen.
Eine letzte Beobachtung: Ich war in den letzten Wochen berührt, mit welchem Elan und welcher Entschlossenheit sich in den letzten Wochen Mitbürgern aus Georgien und Belarus für Hilfstransporte und Demonstrationen zugunsten der Ukraine eingesetzt habe. Und noch etwas hat mich elektrisiert. Gleich bei den ersten Demonstrationen nach dem 24. Februar vor der russischen Botschaft habe ich viele Syrer getroffen, die mir gesagt haben: Endlich habt ihr Deutschen begriffen, wie es uns ergangen ist in den Bombennächten in Aleppo und anderen Städten unserer Heimat.
Ich glaube, es ist in Deutschland vielen Leuten spät klar geworden, welches Spiel Russland tatsächlich die letzten Jahre mit der Ukraine gespielt hat. Doch es geht hier um weit mehr als um die Ukraine, wir müssen alle zusammenarbeiten – ohne Unterlass – um diese russische Katastrophe zu beenden. Handeln wir gemeinsam. Packen wir diese Herausforderung an!"
Eintrag vom 3.4.2022 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Jakob Wunder wurde am 3. April 2022 auf www.workuta.de veröffentlicht.
Eintrag vom 28.3.2022 GENERALARZT HORST HENNIG
In ihrer Zeitschrift "Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung" würdigt die Bundeswehr das Schicksal des späteren Generalarztes der Bundeswehr Horst Hennig. Der Medizinstudent aus Halle an der Saale wurde 1950 vom sowjetischen Geheimdienst in ein Lager am Polarkreis verschleppt und überlebte eisige Kälte, Terror, Zwangsarbeit und einen Aufstand der Häftlinge.
- Heft 1/2022 der vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegebenen "Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung"
Während sich in Deutschland etablierte Institutionen der Aufarbeitung widmen und die Erinnerung für nachwachsende Generationen erhalten, sieht es in Russland anders aus. Die kritische Aufarbeitung, ja die bloße mahnende Erinnerung an die Verbrechen unter Lenin, Stalin und ihren Nachfolgern wird erschwert und unterdrückt. Bisher nahm sich die schon zu Zeiten der Sowjetunion gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial der Aufgabe an, diese aufzuarbeiten. Im Gästebuch von Memorial findet sich ein Eintrag des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier aus dem Jahr 2017: 'Die Vergangenheit zu kennen, sie nicht zur Waffe zu schmieden, sondern mit all’ ihren hellen und dunklen Seiten anzunehmen, ist Grundlage für eine friedliche Zukunft.' Im November 2021 beantragte die russische Generalstaatsanwaltschaft das Verbot von Memorial. Ende Dezember 2021 sprach das Oberste Gericht dieses aus.
'Geschichte kann man nicht verbieten', brachte es Klaus Staeck im Deutschlandfunk auf den Punkt. Jeder Versuch, auf die Geschichte einen Deckel drauf zu machen, werde scheitern. Wir Deutschen wüssten: 'Der Deckel wird sich immer wieder heben.' Fassungslos über die 'offene Kriminalisierung' der 'wertvollen Versöhnungsarbeit und Forschung' von Memorial zeigt sich auch Bundespräsident Steinmeier.
Das 1997 erschienene Schwarzbuch des Kommunismus summiert die Opfer der kommunistischen Regime von der DDR bis Nordkorea auf 100 Millionen Menschen, darunter auch die in den russischen und chinesischen Bürgerkriegen zwischen Kommunisten und Nationalisten Getöteten; andere schätzen die Zahl auf 65 bis 93 Millionen. James Kirchnick forderte in der FAZ vom 16. September 2014, 'die Opfer des Kommunismus verdienen ein Denkmal'. Einfacher umzusetzen und wohl auch wirksamer wäre es, die Opfer nicht zu vergessen, ihre Namen zu nennen, ihre Gesichter zu zeigen und ihre Geschichte zu erzählen. Dazu will auch diese Ausgabe der Militärgeschichte ihren Beitrag leisten
Sie finden die online-Ausgabe hier: https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5369640/39155c7c4558cbf10c8ceaf660b2107d/zmg-2022-h1-data.pdf.
...schließenEintrag vom 14.3.2022 HERTA LAHNE IST TOT
Am 1. März 2022 verstarb Herta Lahne in Alter von 94 Jahren in Meiningen.
Ein Nachruf von Meinhard Stark
- Herta Lahne, 2017
In einem unserer langen Gespräche gab mir Hertha Lahne folgendes Resümee mit auf den Weg: Ich bin bereit, für einen Menschen, der in Not kommt, alles zu geben. Ich bin nicht darauf versessen, irgendwelchen Besitz zu haben. Der Wert des Lebens liegt nur im Zusammenhalt, in der Anständigkeit, in der Freundschaft und Kameradschaft. Den anderen sein Leben lassen und gönnen von ganzem Herzen, wie ich es selber will. Mir fallen immer wieder diese Zeilen von Heinrich Heine ein: 'Anfangs wollt ich fast verzagen, und ich dacht, ich schaff es nie. Und ich hab es doch geschafft, aber frag mich nur nicht wie.'"
Im Sommer vergangenen Jahres besuchte ich die hochbetagte Frau wieder einmal. Am 1. März 2022 ist Herta Lahne im 95. Lebensjahr verstorben. Ihre Erinnerungen, Gedanken und Erfahrungen bleiben uns. Die Bundesstiftung hat Herta Lahne einen biographischen Podcast gewidmet. Zu finden ist dieser unter: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/mediathek/gulag-zeitzeugen-herta-lahne.
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