Aktuelles
Eintrag vom 3.11.2024 "RÜCKGABE DER NAMEN"
Am 29. Oktober 2024, am Vorabend des in Russland offiziellen Gedenktages für die Opfer politischer Verfolgung, wurden weltweit die Namen derer gelesen, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Zum fünften Mal fand diese Namenslesung auch am Berliner Steinplatz statt.
Memorial Deutschland e.V. hatte wieder zu dieser Gedenkveranstaltung eingeladen, um am Denkmal für die Opfer des Stalinismus diesmal die Namen der zum Tode verurteilten und in Moskau hingerichteten aus dem Bundesland Thüringen zu verlesen. Die Jahre zuvor wurden die Namen der Opfer aus Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt verlesen. Zwischen 1950 und 1953 wurden etwa 1000 deutsche Zivilistinnen und Zivilisten von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) in der DDR zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt, um dort im Butyrka-Gefängnis hingerichtet zu werden. Die Opfer haben kein individuelles Grab, sie wurden heimlich auf dem Donskoje Friedhof in Moskau anonym verscharrt.
101 Frauen und Männer aus Thüringen wurden zwischen April 1950 und Dezember 1953 in Moskau erschossen. Die meisten Opfer wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert.
Christine Riek, Mitglied im Vorstand von Memorial Deutschland, gedachte bei ihrer Eröffnung auch den Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd, der im Sommer 2020 aus Dubai von Schergen des Mullah-Regimes in den Iran entführt und am 28. Oktober 2024 hingerichtet wurde. Unsere Gedanken gingen an seine Tochter Gazelle, die jahrelang vergeblich an die deutsche Regierung appelliert hat, sich stärker für seine Freilassung einzusetzen. Auch Angehörige der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion beteiligten sich an der Namenslesung.
Lars Maltzahn, Sohn von Horst Maltzahn, politischer Häftling in Workuta, beteiligte sich ebenso wie Margreet Krikowski. Sie verlas u.a. den Namen von Heinz Baumbach, dessen Todesurteil am 23. Oktober 1952 vollstreckt wurde. Unsere Gedanken gingen an seine Tochter und Enkeltochter, die dafür gesorgt haben, dass die erste Gedenktafel "Letzte Adresse" in Deutschland am 30. August 2019 an seinem Wohnhaus in Treffurt (Thüringen) angebracht wurde.
Stefan Krikowski verlas u.a. den Namen von Heinz Eisfeld, der am 16.7.1952 in Potsdam (Leistikowstr.) durch ein SMT zum Tode verurteilt wurde. Heinz Baumbach – obgleich aus Treffurt stammend – hatte Kontakt zu Heinz Eisfeld und Helmut Paichert, der Teil einer Gruppe von Schülern aus Meuselwitz war. Auch Frieder Wirth gehörte dieser Gruppe an. Wie seine Freunde Eisfeld und Paichert wurde auch er zum Tode verurteilt. Als er aus der Todeszelle im Butyrka-Gefängnis in Moskau in eine andere Zelle verlegt und zur Zwangsarbeit in einem Straflager (Workuta) "begnadigt" wurde, nahm Wirth an, dass nun auch seine Kameraden Eisfeld, Paichert und Baumbach bald kommen würden. Aber sie kamen nicht. Eisfeld, Paichert und Baumbach wurden am 23. Oktober 1952 im Butyrka-Gefängnis erschossen!
Der derzeitige grauenhafte Vernichtungskrieg Russlands gegen das ukrainische Volk fordert weitere Tausende unschuldige Tote, viele ebenso in Massengräbern verscharrt.
Bei trübem Herbstwetter kamen etwa 70 bis 80 Personen zur Gedenkveranstaltung, darunter viele Russen. Viele lasen die Namen ihrer eigenen Familienangehörige auf Russisch oder anderer für sie wichtige Personen, die Opfer kreml’scher-putinscher Gewaltherrschaft wurden, vor. Drei russische Frauen verlasen Briefe aus dem GULag, der erste wurde im Jahr 1917 verfasst und der zweite über 100 Jahre später.
Über zwei Stunden Namenslesung reichte nicht aus, sodass bei der nächsten Namensverlesung im Oktober 2025 die Namen der Opfer aus Thüringen fortgeführt wird.
Impressionen von der Gedenkveranstaltung am 29. Oktober 2024 vom Steinplatz in Berlin:
- Christina Riek und Irina Scherbakowa (MEMORIAL) (v.l.n.r.)
- Denkmal für die Opfer des Stalinismus am Berliner Steinplatz
- Die Geschwister Erika und Günter Kunert, hingerichtet am 12.6.1952 in Moskau
- Alfred Nätke, erschossen am 12.6.1952 im Moskauer Butyrka-Gefängnis
- Margreet Krikowski
- Mario Bandi ("Letzte Adresse" & MEMORIAL)
- Hugo Diederich, VOS Berlin und ehemaliger politischer Häftling
- Klaus Reinhard, Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945 – 1950 e.V.
- Anke Giesen, Mitglied des Vorstands von Memorial Deutschland
- Stefan Krikowski, Vorsitzender LAG Workuta/GULag Sowjetunion
- Lars Maltzahn, Sohn von Horst Maltzahn, ehem. Gulag-Häftling
- Uta Gerlant, Osteuropa-Historikerin & Mitgründerin von MEMORIAL-Deutschland
- Sabine Erdman, Mitglied des Vorstands von Memorial Deutschland
- Hartmut Richter, Fluchthelfer, ehemaliger politischer Häftling
- Andreas Pfeiffer, ehemaliger politischer Häftling
- Drei Frauen verlesen Briefe aus dem GULag
Eintrag vom 31.10.2024 MIT FLUGBLÄTTERN GEGEN DIE SED-DIKTATUR
Am 24. Oktober 2024 fand im Kulturzentrum Lebendige Ecke in Bad Lausick eine Lesung der besonderen Art statt.
Ein Bericht von Bärbel Beyer
Mit Flugblättern gegen die SED-Dikatur
Im Jahr 2014 nimmt der Historiker und Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai zum ersten Mal an einem Belter-Dialog in Leipzig teil. Diese Dialoge finden jährlich im April an der Universität Leipzig statt und haben das Ziel, den studentischen Widerstand gegen die SED in den Fokus zu rücken. Was Mai dort hört, lässt ihn förmlich erstarren. Das Schicksal der Leipziger Studenten ist so unfassbar und grausam – und er hat nie zuvor davon gehört! Fast ein ganzes Jahrzehnt widmet er sich intensiv dem Thema der massenhaften Verhaftungen, Verschleppungen und Ermordungen unzähliger Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in der DDR bis 1953. 2023 veröffentlicht er sein Buch Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde, in dem er akribisch beschreibt, wie die SED schrittweise die Macht ergreift und welche Methoden sie dabei anwendet. Anhand der Schicksale eines losen Netzwerks von Gleichgesinnten um den Leipziger Volkswirtschaftsstudenten Herbert Belter verdeutlicht Mai, wie die SED auf ihrem Weg zur vollständigen Macht buchstäblich über Leichen geht. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 ist der Prozess der Machtergreifung abgeschlossen, bis die SED-Macht schließlich von mutigen Leipziger Bürgern mit Kerzen im Herbst 1989 niedergerungen wird.
Am 20. Januar 1951 wird die sogenannte Belter-Gruppe im Gefängnis in der Bautzner Straße in Dresden durch ein sowjetisches Militärtribunal für ihren legalen Widerstand zu absurden Strafen verurteilt. Herbert Belter wird zum Tode durch Erschießen verurteilt und am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet. Mit ihm stehen neun weitere Zivilpersonen vor dem Tribunal: acht Studenten und ein Tischlergeselle. Dieser Tischlergeselle ist mein Vater.
Die Suche nach meinem Vater
Manch ein Weg ist lang und beschwerlich. Nach dem Tod unseres Vaters benötigen meine Schwester Christel Haase, geboren 1968, und ich, Bärbel Beyer, geboren 1962, rund 20 Jahre, um uns mit seiner bewegenden und tragischen Biografie auseinanderzusetzen. Ehrhardt Becker wird am 28. Januar 1930 als einziges Kind von Erna und Arthur Becker in eine Tischlerfamilie hineingeboren. Das Verhältnis zu meinem Vater war schwierig, da ich ihn als depressiv wahrgenommen habe. Doch schon lange beschäftigt mich die Frage, warum mein Vater so war, wie er war. Diese Frage führt mich im Frühjahr 2014 zu Siegfried Jenkner und seiner Frau Brigitte nach Hannover. Siegfried Jenkner war ein Nachbar und Schulfreund meines Vaters in Bad Lausick. Von ihm erhoffe ich mir, mehr über die Kindheit und Jugend meines Vaters zu erfahren – die Zeit vor seiner Verhaftung 1950.
Siegfried Jenkner lebte mit seinen drei Geschwistern gegenüber unserem Elternhaus in Bad Lausick. Beide Familien waren lange und eng miteinander befreundet. In meiner Kindheit kamen die Eltern von Siegfried Jenkner regelmäßig zu den Eltern meines Vaters. Siegfried und Ehrhardt, im gleichen Alter, verband eine lebenslange Freundschaft. Bei gutem Wetter fuhren sie mit dem Fahrrad oder dem Zug zur 16 Kilometer entfernten Oberschule nach Borna und wurden am 18. April 1946 zusammen in der Sankt-Kilian-Kirche in Bad Lausick konfirmiert.
Bei meinem Besuch in Hannover beschäftigt mich besonders eine Frage: Welche Erinnerungen hat Siegfried Jenkner an meinen Vater? Was zeichnete ihn aus? Was ich von Siegfried Jenkner höre, ist durchweg positiv und klingt nach einer glücklichen Kindheit trotz der Kriegsjahre. Den Eltern von Ehrhardt Becker war es wichtig, dass er Klavierspielen lernte. Außerdem erfahre ich, dass er im Tennisclub von Bad Lausick aktiv war. "Das Klavierspielen hat er nie verlernt", sagt Siegfried Jenkner.
Einige Jahre vergehen und Siegfried Jenkner verstirbt 2018, etliche Jahre nach Ehrhardt Becker, der 2002 infolge einer Krebserkrankung stirbt. Anfang März 2022 klingelt plötzlich mein Handy. Brigitte Jenkner ist am Telefon. "Bärbel, es wird höchste Zeit, dass du mehr über die Umstände erfährst, die zur Verhaftung deines Vaters geführt haben. Begleite mich doch am 27. April zur 14. Belter-Dialog-Tagung nach Leipzig. Ich habe dich schon angemeldet und werde selbst mit dem Zug anreisen. Mein Hotel habe ich auch schon gebucht." Überrumpelt von Brigitte Jenkner, rufe ich Michael Asboe an, dessen Vater Herbert Asboe mit meinem Vater im sowjetischen Arbeitslager in Taischet Zwangsarbeit leisten musste.
Im Sommer 2023 erhalte ich ein weiteres Puzzlestück, um meinen Vater besser zu verstehen. Als letzter Zeitzeuge der Belter-Gruppe lebt Prof. Dr. Werner Gumpel in einer Seniorenresidenz in Augsburg zusammen mit seiner Frau Rosel. Dort besuche ich ihn zweimal und führe wunderbare Gespräche mit ihm. Werner Gumpel und mein Vater teilten sich ab Oktober 1950 für einige Wochen eine Zelle im sowjetischen Militärgefängnis in Dresden. Wie war mein Vater? Werner Gumpel erzählt: "Keiner konnte so gut Witze erzählen wie dein Vater. Ja, er erhielt sogar den Auftrag von uns, sich neue Witze auszudenken. Das war für uns überlebenswichtig; ab und zu ein bisschen Lachen schenkte uns Mut und Zuversicht." Ich erfahre auch von einer mir bis dahin unbekannte Fähigkeit meines Vaters: Er konnte geschickt und schnell Flöhe fangen. Werner Gumpel sagt: "Dein Vater schrieb nach erfolgreicher Jagd aus toten Flöhen groß das Wort ‚FLOH‘ an die Wand. Dick und sehr gut lesbar. Ohne diese Gabe hätten uns die Viecher vermutlich irgendwann aufgefressen." Erst vor einigen Monaten fanden wir Aufzeichnungen von unserem Vater, ein Gedächtnisprotokoll, in dem er genau diese Situation beschreibt. Beim Erzählen muss Werner Gumpel oft schmunzeln. Seine Augen und sein Geist sind bei den Gesprächen wach und klar, und ich bin unendlich dankbar für diese kostbare Zeit! Zum Abschied sagte Werner Gumpel noch: "Dein Vater war ein so wundervoller Kamerad!"
Widerstand
Nach dem Abitur 1949 beginnt Ehrhardt, das einzige Kind der Familie Becker, eine Tischlerlehre, da er einmal die Familientischlerei übernehmen soll. Siegfried Jenkner beginnt sein Studium an der Universität Leipzig. Doch Siegfried Jenkner wird zunehmend unzufrieden mit der sozialistischen Umgestaltung und steht in Kontakt zu einem losen Kreis oppositioneller Studenten um Herbert Belter. Im Sommer 1950 kontaktieren sie den Westberliner Rundfunksender "RIAS", woraufhin sie Flugblätter gegen die verfassungswidrige Einheitsliste der bevorstehenden Wahl zur ersten Volkskammer der DDR erhalten. Siegfried Jenkner findet in Ehrhardt Becker einen Gleichgesinnten, der mehrere der Flugblätter unter seinen Kameraden der Feuerwehr verteilt.
Bei einer Personenkontrolle wird die DDR-Volkspolizei auf Herbert Belter aufmerksam. Am 5. Oktober 1950 kommt es zu ersten Ermittlungen. Bei einer Wohnungsdurchsuchung werden sein Notizbuch mit Adressen(!), zahlreiche kritische Schriften und Flugblätter sichergestellt. Daraufhin verhaftet die Volkspolizei nach Belter auch seine Mitstreiter, darunter Ehrhardt Becker und Siegfried Jenkner, und überstellt sie an die "Freunde" des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit (MGB). Ein sowjetisches Militärtribunal in Dresden verurteilt Siegfried Jenkner zu 25 Jahren Zwangsarbeit im sowjetischen Lagerkomplex GULag. Auch Ehrhardt Becker erhält eine unverhältnismäßig lange Strafe.
Anfang Januar 1954 kehrt Ehrhardt Becker völlig abgemagert aus dem GULag Taischet (Baikalsee) nach Bad Lausick zurück. Siegfried Jenkner wird erst im Oktober 1955 aus dem GULag Workuta in die Bundesrepublik entlassen. Seit Mitte der 1970er-Jahre besucht Siegfried Jenkner regelmäßig seinen Freund in Bad Lausick. Nach der friedlichen Revolution von 1989 widmen sich Siegfried Jenkner und andere der historischen Aufarbeitung der "Belter-Gruppe", um Herbert Belter ein ehrendes Andenken zu schaffen. Seit dem 1. Mai 2001 existiert eine Belterstraße in Leipzig. 1994 rehabilitiert die russische Generalstaatsanwaltschaft die gesamte "Belter-Gruppe" – Herbert Belter posthum.
Geschichte weitertragen - Die 2. Generation übernimmt
Und so entstand die Idee, eine Buchlesung in Bad Lausick zu organisieren, der Heimatstadt von gleich zwei Mitgliedern der "Belter-Gruppe". Leider musste Klaus-Rüdiger Mai den Termin krankheitsbedingt kurzfristig absagen. Zum Glück fanden sich einige Mitglieder des Vereins Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, die in zweiter Generation das Andenken an ihre Väter und Mütter weitertragen, bereit, den Abend zu gestalten.
Bad Lausick hat mit den umliegenden Gemeinden rund 10.000 Einwohner und ist im Kern eine Kleinstadt südöstlich von Leipzig. Zusammen mit meiner Schwester Christel haben wir alle Medien genutzt, um für die Buchpräsentation zu werben. Doch die große Frage stand im Raum: Wie viele würden kommen? Als wir am 24. Oktober 2024 um 17.30 Uhr zum Veranstaltungsort in Bad Lausick kamen, standen bereits die ersten Interessenten vor der Tür. Kurz vor Beginn waren fast alle 60 Stühle besetzt. Mit einem solch großen Interesse hatten wir nicht gerechnet. Es war ein sehr gutes Gefühl.
Meine Schwester Christel Haase berichtete, wie die SED mit unserem Vater Ehrhardt Becker nach seiner Rückkehr nach Bad Lausick umgegangen war. Sie erzählte von mutwillig zerstörten Geschenken in Westpaketen, von permanenten Drohungen und Einschüchterungen durch die Stasi, und wie ihr Vater sich beruflich nie frei entfalten konnte, und keine Gesellen anstellen durfte. Das jahrzehntelange Schweigen und das Verbot, über das große Unrecht und die Haft in Taischet zu reden, zermürbte zunehmend unseren Vater. Am Sterbebett sagte er: "Mein größter Fehler war nicht, dass ich Flugblätter verteilt habe, sondern dass ich in diesem Staat geblieben bin."
Heike Hennig erzählte die Geschichte ihres Vaters Horst Hennig, der als Medizinstudent an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale im berüchtigten "Roten Ochsen" in Untersuchungshaft war. Von einem sowjetischen Militärtribunal im Mai 1950 zu 25 Jahren Haft in Workuta verurteilt, überlebte er dort den Häftlingsaufstand, der am 1. August 1953 mit Gewalt niedergeschlagen wurde. 64 Gefangene wurden dabei getötet, über hundert zum Teil lebensgefährlich verwundet. Horst Hennig hat all die Geschichten um den Aufstand akribisch recherchiert und aufgeschrieben. In der BRD nahm er sein Medizinstudium erneut auf, arbeitete bis 1983 als Generalarzt bei der Bundeswehr und starb 2020.
Michael Asboe berichtete, wie sein Vater Herbert Asboe als 16-Jähriger im Herbst 1945 verhaftet und in den GULag nach Taischet verschleppt wurde. Herbert und Ehrhardt lernten sich im Arbeitslager Taischet kennen und wurden im Dezember 1953 zusammen auf den Transport in die Heimat geschickt. Sie waren Seelenverwandte und Freunde bis an ihr Lebensende; ihre Freundschaft hielt auch über die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland hinweg.
So wurde aus einer Buchvorlesung über den Widerstand an der Leipziger Universität ein Abend über den Widerstand gegen die SED-Diktatur an vielen anderen Orten der DDR. Die Zuhörer erfuhren von der willkürlichen Verschleppung von Menschen. Nach der Veranstaltung gab es viel Applaus und Anerkennung für die kurzfristig umgeplante Veranstaltung.
Geehrt wurden die Ehefrauen von Ehrhardt Becker und Siegfried Jenkner, Rosemarie Becker und Brigitte Jenkner. Beide sind mittlerweile hochbetagt und waren ihren Ehemännern stets Trost und Stütze. Der Tag endete mit einem geselligen Abendessen beim Griechen in Bad Lausick, wo zahlreiche Informationen über die Väter und Männer ausgetauscht wurden, die ein so bewegtes Leben hatten.
Bärbel Beyer, Oktober 2024
- Bärbel Beyer, Stefan Krikowski, Christel Haase, Heike Hennig, Michael Asboe (v.l.n.r.)
- Bärbel Beyer, Rosemarie Becker, Christel Haase, Brigitte Jenkner mit ihrer Tochter Maria und ihrem Schwager Klaus Jenkner (v.l.n.r.)
Eintrag vom 26.9.2024 GERALD JORAM IST TOT
Am 16. September 2024 verstarb Gerald Joram kurz vor seinem 94. Geburtstag in Marienheide.
Ein Nachruf von Peer Lange
Nachruf auf Dr. med. Gerald Joram
Gerald Joram, einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen für das jahrelange spurlose Verschwinden politischer Widerständler gegen das Zwangssystem von SBZ und SED in den stalinistischen GULAG, hat am 16. September 2024 ein Leben zu Ende gebracht, das ihm zur Ehre gereicht und uns Verbliebenen Trost ist, es miterlebt zu haben. Geboren 1930 im Thüringer Vogtland, studierte er 1951 an der Rostocker Universität Medizin. Zur Zeit der vermeintlichen Souveränwerdung der DDR wollte er deren gewaltherrschaftliche Pervertierung nicht ohne Widerstand geschehen lassen: er schloss sich der Studentengruppe von Karl-Alfred Gedowsky, Alfred Gerlach, Otto Mehl, Hartwig Bernitt, Werner Stickelbröck, Werner Siebert, Brunhilde Albrecht an, die sich zu aufklärendem Widerstand entschlossen hatte. Aber als Zeitzeuge des Widerstands gegen die Diktatur der sowjetkommunistischen SED wurde er zugleich auch Zeitzeuge für deren widerlichste Ausprägung: das Spitzelsystem! Die Gruppe wurde verraten, der sowjetischen Okkupationsmacht überantwortet und Gedowsky bezahlte mit seinem Leben.
- Gerald Joram, Jahrestreffen der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, Karlsruhe, 30. Mai 2014
Gerald hat sich später in besonderem Maß betroffen gezeigt von der Inhumanität, mit der das Gewaltsystem die verzweifelten, in völligem Unwissen gehaltenen Angehörigen misshandelte, und ehrte die bedrückende Nachsuche seiner Mutter durch Veröffentlichung! In Bezug auf dieses spurlose Verschwinden und die Suche nach den Verschleppten ist die westliche Aufklärung ähnlich erfolglos geblieben wie zuvor die Alliierten des 2. Weltkriegs hinsichtlich der verdeckten Deportationen und Menschenvernichtung des NS-Zwangssystems.
Im Lagerleben des GULAG mit seinen ganz besonderen Herausforderungen hat Gerald deutlich Kameradschaftlichkeit bezeugt - aber auch seine Befähigung zu sarkastischer Enthaltung vom Arbeitsdruck des Zwangsarbeitssystems: eine der hilfreichen Überlebensstrategien in jenen "besonderen Umständen"! Selbstverständlich war er beim Hungerstreik im Lager Suchobesvodnoe auch dabei! Vor allem aber bleibt in Erinnerung, dass er es, obwohl nur Student, in Notfällen verstanden hat, erste Hilfe zu leisten.
1955 heimgekehrt (als "Schwerstkriegsverbrecher", wie er gern sarkastisch aus seiner Stasi-Akte zitierte) hat er sich nach Überwindung unnötiger Anerkennungshürden entschlossen seinem hippokratischen Lebensziel zugewendet und ist nicht lediglich zu einem 1966 zum Dr. med. promovierten Mediziner, sondern zu einem weithin anerkannten ärztlichen Helfer geworden. Und das nicht nur auf seinem neuen medizinischen "Acker" im Umkreis von Marienheide im Oberbergischen, sondern auch nach einem ihm trotz Gegenwehr staatlicherseits jahrgangsbezogen aufgezwungenen "Ruhestand" in 14 Auslandseinsätzen ("Ärzte f. d. 3. Welt" und "Humedica International") jenseits Europas. Das brachte ihm die Ehrung durch das Bundesverdienstkreuz ein.
Diese Lebensleistung ist undenkbar ohne seine Frau Annelie - die neben der Organisation der Praxis vor allem das Familienglück mit vier Hoffnung verkörpernden Kindern garantierte. Annelie ließ Gerald auch nie in seiner haltbietenden Kameradschaft zu den altvertrauten Lagerkameraden und deren Organisation "Lagergemeinschaft Workuta" allein. Gerald mit Annelie hat nie auf den Treffen gefehlt. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus auch seine enge Beziehung zum "VERS" (Verein ehemaliger Rostocker Studenten) geblieben: hier war die lokale Prägung des früheren Widerstandes besonders spürbar.
Gerald Joram war bei aller Zuneigung zu seiner Thüringer Herkunftsregion und der Affinität zum norddeutschen Aktionsfeld weltoffen im besten Sinn. Das erwies er nicht allein in seinen ärztlichen Einsätzen in der "Dritten Welt", sondern symptomatisch auch, als er aus dem Kreis der Ex-Workutaner eine Solidaritätsbekundung für russische Bergleute Workutas veranlasste, die einem Bergwerksunglück ausgesetzt waren: sie waren ihm keineswegs Fremde! Auch in diesem Sinn war er den Idealen seines frühen Widerstandes treu geblieben.
An seinem Lebensende hat ihn das Wiederauferstehen des sowjetischen Gewaltsystems und der Kriegswut im Russland unter Putin tief und deprimierend erschüttert. Diese Entwicklung musste solch politisch verantwortlich Fühlende wie Gerald Joram, die den Widerstand gegen SED-sowjetische Gewaltherrschaft und Stalins GULAG durchlebt hatten, besonders bedrücken.
Peer Lange
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Eintrag vom 12.08.2024 HORST SCHÜLER
Einladung zu einem bebilderter Vortrag über Horst Schüler und Lesung aus seinen Texten. Zum Gedenken an den 100. Geburtstag von Horst Schüler.
Die Lagergemeinschaft Workuta und die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße nehmen den 100. Geburtstag von Horst Schüler am 16. August 2024 zum Anlass für ein ehrendes Gedenken mit einem bebilderten Vortrag und einer Lesung aus den Texten des 2019 verstorbenen Journalisten, wozu wir Sie herzlich einladen möchten.
Horst Schüler kommt 1924 im heutigen Potsdamer Stadtteil Babelsberg zur Welt. Als 17-Jähriger wird er Zeuge, wie sein Vater Fritz Schüler, der sich im sozialdemokratischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierte, von den Nationalsozialisten festgenommen und im Gefängnis Lindenstraße inhaftiert wird. 1942 erfolgt die Ermordung seines Vaters im KZ Sachsenhausen. Als "Opfer des Faschismus" kann Horst Schüler nach dem Zweiten Weltkrieg ein Volontariat bei der "Märkischen Volksstimme" beginnen. Er verfasst eine regelmäßige Glosse, die Alltagsprobleme aufgreift, Behördenwillkür kritisiert und offenkundige Mängel beim Namen nennt. Die wachsende Zensur und ein Versuch, ihn als Spitzel zu rekrutieren, verstören Schüler. Er nimmt Verbindung mit der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KgU) in West-Berlin auf. Fortan berichtet er in westlichen Zeitungen unzensiert über Verhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone.
1951 wird Horst Schüler vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet und ebenfalls im Gefängnis Lindenstraße in Potsdam eingesperrt. Nach langen Verhören wird Schüler im März 1952 von einem Sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in den Lagerkomplex Workuta am nördlichen Polarkreis deportiert. Im Zuge seiner vorzeitigen Entlassung kommt er 1955 aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland. Mit seiner Ehefrau Ingrid baut er sich in Hamburg ein neues Leben auf und arbeitet dort wieder als Journalist.1992 reist er als erster deutscher Journalist zurück nach Workuta und schreibt über seine Erlebnisse das gleichnamige Buch "Workuta: Erinnerung ohne Angst".
- Horst Schüler im Jahr 2000
Horst Schülers Biografie ist ebenfalls Teil der von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur konzipierten Plakatausstellung «…denen mitzuwirken versagt war.» Ostdeutsche Demokraten in der frühen Nachkriegszeit, die noch bis zum 18. August 2024 in der Gedenkstätte Lindenstraße zu sehen ist. Die Ausstellung führt die Besucher in den historischen Kontext der damaligen Zeit ein, in die Entstehung des Grundgesetzes und seiner Grundrechte sowie die parallele Errichtung einer kommunistischen Diktatur in SBZ / DDR. Mit den biografischen Tafeln werden Personen in Erinnerung gebracht, die beispielhaft für Viele sich in der SBZ und DDR im Zeitraum 1945-1953 für Demokratie und Grundrechte eingesetzt haben. Die Ausstellung wird in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gezeigt.
Bebilderter Vortrag über Horst Schüler und Lesung aus seinen Texten: am 16. August 2024 ab 17 Uhr in der Gedenkstätte Lindenstraße
Begrüßung: Maria Schultz, Vorstand der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
Grußwort: Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; Dieter Dombrowski, Vorsitzender der UOKG
Vortrag: Stefan Krikowski, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion e.V.
Lesung: Alexander Bandilla, Schauspieler und Kulturwissenschaftler
...schließenEintrag vom 21.07.2024 FREE LUIS!
Der Verein PatriaYVida, der auf dem Verbändetreffen der UOKG am 1. Juni 2024 mit großer Mehrheit als neues Mitglied der UOKG begrüßt worden war, hatte am Donnerstag, den 11. Juli 2024, zu einer Demonstration vor der kubanischen Botschaft in Berlin-Pankow aufgerufen.
Ein Bericht von Stefan Krikowski
Als im Juli 2021 Tausende Menschen gegen die extreme Armut, die andauernde Wirtschaftskrise und die hohe Inflationsrate in Kuba demonstrierten, reagierte das kommunistische Regime am 11. Juli 2021 mit Gewalt und nahm 17 Personen fest, die – wir (er)kennen es – in Unrechtsprozessen zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden und seitdem in kubanischen Kerkern eingesperrt sind.
Etliche Mitglieder des Vereins, der seinen Sitz in Dresden hat, hatten die weite Anreise aus verschiedenen Städten in den neuen Bundesländern auf sich genommen. Zusammen mit weiteren Unterstützern demonstrierten etwa 25 Teilnehmer für die Freilassung u.a. von Luis Frometa Compte.
Luis Frometa Compte, der Vater der Vereinsvorsitzenden Janie Frometa Compte, war am 17. Juli 2021 auf Kuba verhaftet, weil er während seines Urlaubs mit seinem Handy Fotos einer Demonstration aufgenommen hatte.
Luis Frometa war als kubanischer Gastarbeiter 1985 in die DDR gekommen und besitzt neben der kubanischen mittlerweile auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner mittlerweile geschiedenen Ehefrau und zwei Töchtern in Dresden. Seit seiner Verhaftung kämpfen sowohl Janie, ihre Schwester Maria aber auch die Ex-Ehefrau ununterbrochen und unermüdlich für Luis Freilassung.
Janie berichtete, wie die Verhaftung ihres Vaters stattgefunden hat. Polizisten hätten ihrem Vater gesagt: "Mitkommen aufs Revier, dann bekommst du dein Handy wieder". Noch im Polizeiwagen klickten aber die Handschellen. Ein Gericht hatte Luis zunächst zu 25 Jahren verurteilt, das Urteil dann auf 15 Jahre Haft revidiert. Seit nunmehr drei Jahren ist Luis Frometa Compte auf Kuba unrechtsmäßig inhaftiert. Diese hohe Haftstrafe erinnert uns an die bittere Stalin-Zeit. Im letzten Winter ist Luis Frometa von kriminellen Mithäftlingen brutal misshandelt worden – mit Wissen der Gefängnisaufsicht.
Luis Frometa ist nur ein Gefangener, für den sich der Verein einsetzt. Grundsätzlich setzt er sich für die Menschenrechte in Kuba sowie für die Freilassung aller politischen Gefangenen auf der Sonneninsel ein.
Trotz der beklemmenden Umständen, war es beeindruckend mit wieviel Mut, Lebensfreude und Hoffnung, Luis Familie sich für nicht nur seine Freilassung einsetzt. Und die Familie ist zuversichtlich, dass Luis Frometa bald freigelassen wird.
Kaum vor der kubanischen Botschaft angekommen, ging es mit einem Megafon gleich zur Sache: Viele Deutsch-Kubaner mit ihrem beeindruckenden Temperament riefen den Gegendemonstranten lauthals ihre Botschaft auf Spanisch zu. Denn direkt vor der kubanischen Botschaft hielten die unbelehrbaren Genossen ihre Demonstration ab. Ich muss gestehen, es tat körperlich weh, diese ergrauten Alt-Genossen, die mit Hammer und Sichel auf ihren Plakaten, mit DKP-Fahnen und mit unerträglichen Parolen wie "Der Kommunismus wird auf Kuba siegen und nicht die Konterrevolution" ihre Unbelehrbarkeit zur Schau stellten, zu ertragen. Der Kommunismus siecht und siecht und siecht dahin.
Die vier Stunden gingen wie im Fluge vorbei, denn es war für uns Berliner Mitstreiter hoch interessant, Informationen über Kuba von der Familie Frometa und von ihren kubanischen Freunden aus erster Hand zu erfahren. Frei nach Arno Esch schließe ich mit: Ein liberaler Kubaner steht mir näher als ein deutscher Kommunist.
FREE LUIS!
Impressionen
...schließenEintrag vom 27.5.2024 HANS GÜNTER AURICH IST TOT
Am 19. Mai 2024 verstarb Hans Günter Aurich im Alter von 91 Jahren in Kronberg im Taunus.
Ein Nachruf von Stefan Krikowski
Das Foto auf dem Studentenausweis der Universität Leipzig zeigt Hans Günter Aurich als ernsten aber zuversichtlich dreinblickenden Heranwachsenden von noch nicht mal 18 Jahren. Bei Kriegsende ist er gerade 12 Jahre alt. Sein Vater ist 1944 im Krieg gefallen. Ab 1947 besucht Hans Günter Aurich die Friedrich-Engels-Oberschule in seinem Geburtsort Meuselwitz, an der er 1950 auch sein Abitur ablegt. Geprägt ist er durch den nur 4 Jahre älteren Junglehrer Wolfgang Ostermann mit seinen Idealen des Humanismus, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Durch ihn wird Hans Günter Aurich für die Verbrechen des Nationalsozialismus sensibilisiert.
Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur glaubt Aurich an einen Neuanfang. Um den Lehrer Wolfgang Ostermann bildet sich eine kleine Schülergruppe, die kritische Texte und Literatur studiert und sogar einzelne Flugblätter mit Kritik an den Einheitslisten bei Wahlen verteilt. Schnell spüren Aurich und seine Mitschüler, dass diese freiheitlichen Gedanken mit der heraufziehenden kommunistischen Diktatur kollidieren.
Am 10. November 1950 wird Hans Günter Aurich an der Universität Leipzig immatrikuliert. Am 26. April 1952 wird er zusammen mit fünf weiteren ehemaligen Meuselwitzer Schülern verhaftet – Aurich selbst bezeichnet es als eine Verschleppung – und in das berüchtigte NKWD-Gefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße überstellt. Wie hat er die drei Monate der so genannten Untersuchungshaft bloß überstanden? Die nächtlichen Verhöre bedeuten Folter durch Schlafentzug. Am Ende ist er gebrochen und gesteht, was das NKWD ihm zur Last legt: Vorbereitung zum aktiven Widerstand, Spionage, Vorbereitung terroristischer Handlungen sowie antisowjetische Propaganda. Mit den erpressten Geständnissen fällt ein Sowjetisches Militärtribunal am 16. Juli 1952 schwerste Urteile gegen insgesamt sieben Personen. Grundlage ist der berüchtigte 58er Strafparagraph des russischen Strafgesetzbuches. Vier der Mitangeklagten erhalten ein Todesurteil, von denen eines später in eine Haftstrafe umgewandelt wird. Hans Günter Aurich und zwei seiner Mitangeklagten werden zu jeweils 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt.
Das Foto auf dem Studentenausweis der Universität Marburg zeigt den Studenten der Chemie Hans Günter Aurich fünf Jahre älter. Die kindlichen Gesichtszüge sind weg. Aber sein Blick ist fest. Hinter ihm liegen drei Jahre GULag. Von Oktober 1952 bis Januar 1955 muss er in 10-Stunden Schichten in den Schächten vom Lager Nr. 4 in Workuta schuften. Die tägliche Schinderei im Schacht, die langen Fußmärsche bei eisiger Kälte vom Lager zum Schacht und zurück, die Schikanen der Wachmannschaft und die der Mithäftlinge bringen ihn an die Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit. Aber am Schlimmsten, so schreibt er, empfindet er die Hoffnungslosigkeit: Keine Nachricht von zu Hause, keine Aussicht auf Rückkehr.
- Hans Günter Aurich mit 22 Jahren kurz nach seiner Freilassung im Oktober 1955.
Keine drei Wochen später ist er an der Universität Marburg immatrikuliert, wo er sein Studium mit Promotion abschließt. 1970 wird er an seiner Universität Professor für Organische Chemie. 1958 heiratet er seine geliebte Ruth. Sie bekommen eine Tochter.
Nach seinem Ruhestand besucht Hans Günter Aurich einige der Jahrestreffen der Lagergemeinschaft Workuta. Vor allem sorgt er sich um die Aufarbeitung der Verbrechen der sowjetischen Besatzungsmacht.
Der Streit um die Ausgestaltung der Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam belastet ihn sehr, denn er sieht, dass die Zeitzeugen der kommunistischen Diktatur nicht genügend partizipierend eingebunden und entsprechend in den Ausstellungsräumen gewürdigt werden.
Hans Günter Aurich hat weder seinen Lehrer Wolfgang Ostermann, der ihn so sehr prägte, noch seine Mitschüler Heinz Eisfeld und Helmut Paichert – alle drei zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet – vergessen. An seiner Schule in Meuselwitz – heute Veit-Ludwig-von Seckendorff-Gymnasium – wird am 8. September 2001 eine Gedenktafel "Zum Gedenken an die Opfer der kommunistischen Diktatur und an den Widerstand an unserer Schule" eingeweiht. Die Gedenkrede hält Hans Günter Aurich.
Am 19. Mai 2024 verstirbt Hans Günter Aurich im Alter von 91 Jahren in Kronberg im Taunus. Wir denken in diesen schweren Stunden an seine Frau und an seine Tochter.
Hans Günter Aurich, der nie seinen thüringischen Akzent verloren hat, war ein so höflicher Mensch mit feinem, unterschwelligem Humor. Die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Stefan Krikowski
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Eintrag vom 28.04.2024 TREFFEN DER 2. UND 3. GENERATION
Am Ort, wo einst etliche ihrer Angehörigen in den Jahren 1950 bis 1951 von einem Sowjetischen Militärtribunal entweder zu langjährigen GULag-Haftstrafen oder gar zum Tode verurteilt wurden, trafen sich vom 20. bis 21. April 2024 eine Gruppe aus der 2. und 3. Generation in der Gedenkstätte Roter Ochsen in Halle/Saale zu einer Tagung unter dem Motto: "Die Auswirkungen politscher Haft in der SBZ/Sowjetunion auf die nachfolgenden Generationen der Angehörigen."
Ein Bericht von Stefan Krikowski
Nach der Begrüßung bei Kaffee und Kuchen gab der Gedenkstättenpädagoge Niklas Poppe zunächst Einblicke in die historischen Abläufe dieses Gefängnisses. Die 1842 eröffnete Strafanstalt diente der Sowjetischen Besatzungsmacht von 1945 bis 1952 als einen Sitz für ihre Militärtribunale (SMT). Eine Luftaufnahme zeigte die Dimension der Gefängnisanlage, die auch heute noch als Haftanstalt dient.
Der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Moritzplatz (Magdeburg), Dr. Daniel Bohse erläuterte anschließend, dass das SMT in Sachsen-Anhalt mindestens 289 Todesurteile gefällt hat, nicht nur in Halle sondern auch in Orten wie Stendal, Köthen und Magdeburg. Einige Tafel der neu konzipierten Ausstellung "Politische Strafjustiz in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR – Sachsen-Anhalt" waren im Versammlungssaal aufgestellt. Die Gedanken gingen zu Elfriede Kreyßig, die hier zu 20 Jahre GULag, und ihrem Ehemann Wolfgang Kreyßig, der hier zum Tode verurteilt wurde. Unter den Zuhörern war ihr Neffe mit seiner Lebenspartnerin. Dr. Bohse erläuterte einige der Merkmale dieser Unrechtsurteile, wie die nachträgliche Ausstellung der Haftbefehle, in der das Urteil schon vorweggenommen war. Anm.: In diesem Zusammenhang sei auf das Buch "Abgeholt, verschwunden, hingerichtet – Politische Verfolgung in Sachsen-Anhalt von 1945 bis 1953" hingewiesen, zu dem maßgeblich Edda Ahrberg beigetragen hat.
Anschließend führte Dr. Bohse die Gruppe durch den Teil der Dauerausstellung, der für die Teilnehmer von besonderem Interesse war. Neben anderen bewegenden Schicksalen wurde auch immer wieder der Name des Zeitzeugen Dr. Horst Hennig erwähnt, dessen Tochter anwesend war. Besonders das Ausstellungsdokument "Anrechnungskarte" aus der Akte von Dr. Hennig hatte es den Teilnehmern angetan. Verurteilt am 13. März 1950 begann seine Haftzeit am 14. März 1950 und sollte am 14. März 1975 (25 Jahre!) enden. Wegen guter Arbeitsleistung in Workuta konnte er sein Unrechtsurteil um fast 6 Monate verkürzen und wäre am 19. September 1974 aus dem GULag entlassen worden, wäre nicht Dr. Konrad Adenauer im Herbst 1955 dazwischengekommen.
Von besonderem Interesse war, wie diese Zeit, die heute so weit weg erscheint und doch von so großer Bedeutung sein sollte, den heutigen Besuchern vermittelt werden kann. Die mit viel Aufmerksamkeit erstellten biografischen Mappen einiger Zeitzeugen geben jedem interessierten Leser prägende Einblicke.
Im Innenhof der Gedenkstätte legte die Lagergemeinschaft einen Gedenkkranz ab. Gedenkworte sprachen Niklas Poppe, Dr. Daniel Bohse und Stefan Krikowski, Vorsitzender der LAG Workuta e.V., der aus den Erinnerungen von Horst Maltzahn, dessen Sohn und Schwiegertochter unter den Zuhörern waren, und ein Gedicht von Hem Schüppel, dessen Tochter ebenso anwesend war, vortrug.
Anschließend gab Niklas Poppe tiefergehende Einblicke in die Wissensvermittlung an Schülern. Wieviel Textdokumente ist den heutigen Schülern für eine Biografiearbeit zuzumuten, wie können die pädagogischen Konzepte den Lesegewohnheiten angepasst werden? Welche Anknüpfungspunkte gibt es, wovon sich die heutige Generation an Schülern angesprochen fühlt? Ein wichtiger Anknüpfungspunkt wurde mehrmals erwähnt, die eigene Stadt/Region. Und dadurch wurde auch deutlich, dass die Wissensvermittlung in den alten Bundesländern herausfordernder ist, weil es hier keine örtlichen Anknüpfungspunkte gibt.
Nach so vielen Einblicken und Eindrücken war die Gruppe froh, abends in einem separaten Raum im Hotel Dorint Zeit und Ruhe zu haben, um sich untereinander auszutauschen. Auch das gegenseitige Kennenlernen durfte nicht zu kurz kommen. Der Bruder der ältesten Teilnehmerin wurde in Dresden von einem SMT zum Tode verurteilt. Der mit ihm Angeklagte Hans-Gerd Kirsche wurde zu 25 Jahren GULag-Haft verurteilt und am 1. August 1953 bei der Niederschlagung des Aufstands im 10. Lager von Workuta erschossen.
Am Sonntagvormittag referierte die Psychologin Dr. Maya Böhm zum Thema "Psychologische Belastung bei ehemals politisch Inhaftierten und ihren Angehörigen" über die Ergebnisse ihrer Studie "Politische Haft in der ehemaligen DDR und ihre gesundheitlichen Folgen".
Zu Beginn betonte sie, dass nicht jede belastende Erfahrung ein Trauma verursacht. Traumafolgestörungen bei ehemaligen Häftlingen können körperlicher und psychischer Art sein. Erhöhte Belastungen können sich in Angststörungen und Depressionen verwandeln. Nach einer langen Haftdauer sind häufig soziale und ökonomische negative Folgen zu verzeichnen. Bei ehemals Inhaftierten fehlen Ausbildungszeiten und wichtige Eckpunkte im Berufsleben, wodurch spätere Rentenansprüche deutlich gemindert sein können. Das wirkt sich auf die gesamte Persönlichkeit, auch auf das Selbstwertgefühl aus.
Die Evidenz wissenschaftlicher Studien muss überprüft werden. Wie ist es nachweisbar, dass etwa die psychischen Erkrankungen eines ehemaligen Häftlings durch die Haftzeit verursacht wurden. Oder kann es auch sein, dass die Erkrankung erst nach der Haft oder anlagebedingt auftritt? Dies ist ein lang geführter Streit, den Häftlinge oftmals unter unwürdigen Bedingungen bei Versorgungsämtern durchfechten mussten.
Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), treten, so die Referentin, bei etwa 30% ehemaliger politischer Häftlinge auf, gegenüber einer Rate von ca. 3% in der sonstigen Bevölkerung. Bei Kindern ehemaliger GULag-Häftlinge ist/kann die Stressregulation erhöht sein. Ebenso sei eine erhöhte Vulnerabilität bei Kindern der 2. Generation zu verzeichnen, so die Referentin. Ebenso kann bei Kindern von GULag-Häftlingen durch Identifikation mit einem Elternteil oder erhöhtes Schutzbedürfnis mit dem Elternteil das Kind selbst psychisch belastet sein. Und so können sich psychische Belastungen, wie Angststörungen, Depressionen, vermindertes Selbstwertgefühl sich von Eltern auf die Kinder übertragen.
Im Gegensatz zu den als abstrakt gefühlten Studien konnten die Teilnehmer sehr konkret von Erfahrungen mit ihren Eltern berichten. Konkrete Fallstudien hätten vielleicht einen noch besseren Einstieg in die Diskussion mit den betroffenen Teilnehmern ergeben können.
Alles in allem war es eine sehr gelungene Tagung, und die Teilnehmer vereinbarten sich im nächsten Jahr im Frühjahr 2025 in Berlin wieder zu Treffen. Besonderen Dank ging an Edda Ahrberg, die diese Tagung maßgeblich inhaltlich und organisatorisch vorbereitet hat.
Die Tagung wurde finanziell unterstützt durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Impressionen
...schließenEintrag vom 18.02.2024 EDGAR STROBEL IST TOT
Am 1. Januar 2024 verstarb Edgar Strobel im Alter von 95 Jahren in Mittweida.
Ein Nachruf von Inge Strobel und Enkeltochter Anja Roth
Edgar Strobel wurde am 13. Oktober 1928 in Liebenhain in Sachsen geboren. Er begann 1943 seine Lehre als Schornsteinfeger, welche 1945 durch die Einberufung zum Arbeitsdienst und siebenmonatiger Britischer Kriegsgefangenschaft unterbrochen wurde. Er konnte nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft seine Lehre fortsetzen und 1946 erfolgreich beenden. Edgar Strobel übte danach die Tätigkeit des Schornsteinfegers aus. Am 7. Juli 1948 kam es jedoch zur Verhaftung durch die sowjetische Spionageabwehr auf dem Marktplatz in Mittweida. Er wurde in Dresden-Radebeul durch das Sowjetische Militärtribunal zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ihm wurden u.a. Bandenbildung und antisowjetische Propaganda vorgeworfen. Sein Weg führte über Bautzen und das Speziallager Sachsenhausen weiter nach Moskau und endete in Workuta. Dort leistete Edgar Strobel in den Kohleschächten 6 und 7 Zwangsarbeit bis zum Jahr 1955. Im Zuge der durch Konrad Adenauer verhandelten Freilassung von deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in russischen Lagern, konnte Edgar Strobel die Heimreise über das Sammellager Suchobeswodnoje (bei Gorki) nach Fürstenwalde/Spree (DDR) antreten und wurde am 11. Dezember 1955 schließlich nach über sieben Jahren Gefangenschaft entlassen.
Er hatte in all den Jahren seine Heimat nicht vergessen, und so zog es ihn wieder nach Liebenhain und zu seinen Eltern. Seine beiden älteren Brüder waren im Krieg gefallen, und seine Eltern waren zutiefst dankbar, den jüngsten Sohn wieder bei sich zu haben. Edgar Strobel lebte selbst noch lange in Liebenhain und blieb diesem Ort sein Leben lang tief verbunden.
Nach seiner Rückkehr war er zunächst arbeitslos und fand dann eine Anstellung als Transportarbeiter im VEB Baumwollspinnerei Mittweida. Er lernte in dieser Zeit auch seine spätere Ehefrau Inge kennen. Die beiden heirateten 1957 und haben eine gemeinsame Tochter. Im Jahr 2022 konnten beide ihren 65. Hochzeitstag, somit die Eiserne Hochzeit, zusammen begehen.
Edgar Strobel konnte ab dem Jahr 1961 auch wieder seine Tätigkeit als Schornsteinfeger aufnehmen.
- Edgar Strobel, Jaroslawler Bahnhof (Moskau), 2013
Edgar Strobel ist nun am 1. Januar 2024 mit 95 Jahren in Mittweida verstorben. Er kann auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken. Wir werden ihn vermissen.
Inge Strobel mit Enkeltochter Anja Roth
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