Aktuelles
Eintrag vom 28.12.2021 MEMORIAL VERBOTEN
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation verbietet MEMORIAL
Heute ist ein rabenschwarzer Tag für die Menschenrechte. Ein Tag voll der Wut, des Zorns und der Trauer.
Gestern noch standen etwa zwei Dutzend aufrechte Mitstreiter und Sympathisanten der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL bei Eiseskälte demonstrierend u.a. vor der russischen Botschaft 'Unter den Linden' in Berlin.
Heute hat das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Zwangsauflösung von MEMORIAL International wegen angeblicher Verstöße gegen das "Agentengesetz" angeordnet. Heute ist ein rabenschwarzer Tag für die Menschenrechte. Ein Tag voll der Wut, des Zorns und der Trauer.
Die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion schließt sich der Erklärung der Heinrich-Böll-Stiftung, veröffentlicht in der Zeitschrift Osteuropa vollumfänglich an: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/memorial-verboten/.
Auch in der SBZ und DDR hat das Sowjetregime in meist geheimen Prozessen politische Unrechtsurteile gesprochen. Über 927 Menschen wurden in der Zeit von 1950-1953 in der DDR von sowjetischen Militärgerichten zum Tode verurteilt, über 1.800 km in Zügen nach Moskau deportiert und dort – meistens nächtens im Butyrka-Gefängnis - erschossen. Die Leichen wurden verbrannt und auf dem Donskoje Friedhof verscharrt. Insgesamt wurden etwa 35 000 bis 40 000 deutsche Zivilisten von Sowjetischen Militärgerichten verurteilt. Viele der deutschen SMT-Verurteilten kamen in den GULag nach Workuta.
In George Orwells 1984 sagt der Vernehmungsoffizier O’Brien zu dem Häftling Winston Smith: "Die Nachwelt wir nie von Ihnen hören. Sie werden restlos aus dem Strom der Geschichte entfernt. Es wird nichts von Ihnen übrig bleiben, kein Name in einem Register, nicht die Spur einer Erinnerung. Sie werden sowohl in der Vergangenheit, wie für die Zukunft annulliert sein. Sie werden nie existiert haben."
Dass Angehörige nach 1989 oft erstmalig über das Schicksal dieser Ermordeten Gewissheit erhielten, ist der unermüdlichen Arbeit von MEMORIAL zu verdanken. In dem monumentalen Totenbuch „Erschossen in Moskau …“ wird den Ermordeten ihr Name und Gesicht zurückgegeben. Sie sind nicht aus der Geschichte entfernt. Sie haben existiert. Opfer und Täter werden benannt.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1988 hat MEMORIAL hat über Millionen Biografien von Opfern der Lenin und Stalin Diktatur recherchiert und so ihre Namen den Familienangehörigen und der Öffentlichkeit zurückgegeben.
Putins Oberstes Gericht unternimmt nun mit dem heutigen Urteil einen weiteren Versuch, diese wichtige zivilgesellschaftliche Organisation zu zerschlagen. Die verbrecherische und terroristische Seite der sowjetischen Geschichte soll somit unterdrückt werden. Warum? Weil er es kann. "Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden." So sagte es einst Fritz Bauer, der Frankfurter Generalstaatsanwalt.
Wir sind gewiss, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur dort eine Chance haben, wo keine Lenin- und Stalin-Standbilder (mehr) stehen. Für die Zivilgesellschaft Russlands wünschen wir uns von Herzen, dass dieses Urteil nicht das Ende der Wiederherstellung der historischen Wahrheit über die politischen Repressionen in der Sowjetunion bedeutet.
Stefan Krikowski
Fotos (c) Michael Leh
Eintrag vom 20.12.2021 GERALD WIEMERS IST TOT
Am 13. November 2021 verstarb Gerald Wiemers in Alter von 80 Jahren in Leipzig.
Ein Nachruf von Stefan Krikowski
- Gerald Wiemers, Jahrestagung der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion, Mai 2019.
"Das politische Engagement gegen das Vergessen ist nach wie vor notwendig. Gedenkreden, Gedenktafeln, Straßenbenennungen nach Widerstandskämpfern oder Ausstellungen reichen nicht aus, um nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein vorzudringen. Namen stehen für Personen. Viele haben ihr Leben verloren, andere sind an den Haftfolgen gestorben oder leiden noch heute darunter. All diese Menschen verkörpern konkrete Geschichte und sollten ganz selbstverständlich in den Lehrbüchern der allgemeinbildenden Schulen Eingang finden", so schrieb Gerald Wiemers in der September 2007 Ausgabe von Freiheit und Recht anlässlich der Verleihung des Verdienstkreuzes für die "Belter-Gruppe". Gerald Wiemers war Archivar und Historiker aber ein ebenso wacher politischer Mensch.
Das mit den Schulbüchern ist noch ausbaufähig. Aber als Herausgeber und Publizist hat er maßgeblich daran mitgeholfen, dass die Schicksale der Studenten, die Widerstand gegen das kommunistische Regime geleistet haben, für die Nachwelt erhalten geblieben sind. Das Wirken und das Schicksal des Herbert Belters sind auch dank der unermüdlichen Arbeit von Gerald Wiemers nicht in Vergessenheit geraten.
Die Liste der Bücher, die von Gerald Wiemers herausgeben wurden, ist lang. Sein letztes Buch über den ersten Vorsitzenden der Lagergemeinschaft Sigurd Binski hat er in enger Zusammenarbeit mit seinem Freund Generalarzt Horst Hennig herausgegeben.
Bei den Workuta-Treffen habe ich Herrn Wiemers trotz der ernsten Thematik immer als sehr humorvoll erlebt. Weiterhin war er ein Genussmensch, der die abendlichen Zusammenkünfte bei gutem Essen sehr geschätzt hat. Dem letzten Treffen der Lagergemeinschaft, das in Königswinter im Mai 2019 stattfand und mit dem Besuch am Grab Konrads Adenauers abschloss, überschrieb er treffend "Von Adenauer zu Adenauer". Der Bogen war geschlossen. Nun ist auch das Leben von Gerald Wiemers abgeschlossen. Es war ein erfülltes Leben.
Die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion wird Gerald Wiemers ein ehrendes Andenken bewahren.
...schließenEintrag vom 4.11.2021 NEUERSCHEINUNG
Natalja Jeske rekonstruiert in ihrem Buch erstmalig die Geschichte des Menschen und des politischen Visionärs Arno Esch. Sein Leben und sein Schicksal werden umfassend im Kontext der deutschen Geschichte reflektiert. Die Autorin stützt sich dabei auf zahlreiche, zum großen Teil neu erschlossene Quellen. Es entsteht das Bild einer faszinierenden Persönlichkeit, deren Ausstrahlung über den Tod hinauswirkt. Und es wird deutlich: Eschs Eintreten für die Erneuerung des Liberalismus hat an Aktualität nichts eingebüßt.
Eine Kritik von Dr. Peter Moeller, Vorsitzender des Verbands der Ehemaligen Rostocker Studenten (VERS)
- Arno Esch
Seitdem ist vielfältig an diesen jungen Rostocker Studenten erinnert worden. Aber eine umfassende Biografie fehlte. Diese Lücke ist jetzt durch die Arbeit von Dr. Natalja Jeske geschlossen worden.
Die Autorin zeichnet den gesamten Lebensweg von Arno Esch nach. Sie ist in seinen Geburtsort Memel (heute Klaipeda) gereist, um Einblick in die nähere Umgebung während seiner Kindheit und frühen Jugendjahre zu gewinnen. Sie hat Wegbegleiter gefunden aus der Zeit, in der er als Flakhelfer zum Kriegsdienst verpflichtet war. Einer seiner Mitschüler erinnert an sein Auftreten während der Abiturientenverabschiedung in Grevesmühlen, wo Esch im Herbst 1945 seine Reifeprüfung nachholen musste. Die Autorin hat Verwandte von Esch gefunden und aufgesucht. Dadurch konnte Familiäres und ebenso alte Familienfotos in den Text einfließen.
Die Zeit an der Rostocker Universität und sein Engagement in der liberalen Partei stehen als große Kapitel im Mittelpunkt dieser Biografie. In dieser Zeit hat er sich nicht nur im ständigen Widerspruch mit den Funktionären der immer mächtiger werdenden SED-Diktatur befunden, sondern eigene Ideen für die Erneuerung des Liberalismus entwickelt. So geriet er im Herbst 1949 endgültig in die Fänge der sowjetischen Staatssicherheit. Einer seiner engen Freunde, Hans-Günther Hoppe, notierte: "Die Ideologen empfanden den von Arno Esch in Mecklenburg organisierten Liberalismus nicht nur als politische, sondern auch als geistige Bedrohung. Sein Leben auszulöschen, erschien ihnen der einzige Ausweg." Am Demmlerplatz in Schwerin, dem damaligen Zentrum der sowjetischen Staatssicherheit in Mecklenburg, wurde das Urteil gefällt: Tod durch Erschießen.
Mit sehr viel Sorgfalt hat Natalja Jeske das gesamte Aktenmaterial ausgewertet und daraus einen gut lesbaren Text erstellt. Ihre muttersprachlichen Kenntnisse und das Gefühl für die perfiden Sprachverdrehungen der sowjetischen Vernehmer erwiesen sich dabei als Glücksfall. Mehr als 1400 Fußnoten belegen ihre Aussagen. Sie zeichnet so ein Lebensbild von Arno Esch, das es ermöglicht, ihn als Symbolfigur für den frühen Widerstand und die geistige Erneuerung in der Nachkriegszeit zu sehen. Und mehr als das: Diese Biografie stellt gleichzeitig einen Abschnitt deutscher Zeitgeschichte dar.
Arno Esch hat ein Vermächtnis hinterlassen. Karl-Hermann Flach, einer seiner ganz engen Freunde, der spätere Generalsekretär der FDP, hat die Gedanken von Esch als programmatische Erneuerung in das Freiburger Programm der FDP eingebracht. Die Bildung der sozial-liberalen Koalition ist durch die Ideen von Esch deutlich inspiriert worden.
Natalja Jeske schließt ihren Text mit den Worten: "Er [Arno Esch] soll nicht ausschließlich als […] glänzender Rhetoriker oder als Opfer des Stalinismus in die Geschichte eingehen. Seine Rolle ist die Rolle des Gestalters. Er hat sich selbst als 'liberale Persönlichkeit' in intensiver geistiger Arbeit erschaffen. Er hat die Menschen, mit denen er geistig verbunden war, nachhaltig beeinflusst. Er hat die Geschichte über die Grenzen des eigenen Lebens hinaus mitgeprägt."
Alle, die sich mit dem Andenken an Arno Esch verbunden fühlen, schulden der Autorin großen Dank für diese außerordentlich gelungene Arbeit.
Jeske, Natalja:
Arno Esch. Eine Biografie
Herausgeber: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern
für die Aufarbeitung der SED-Diktatur; Schwerin 2021; 451
Seiten, 50 Abbildungen, gebunden.
Schutzgebühr 10 Euro;
ISBN 978-3-933255-63-1
Bezugsmöglichkeit: Geschäftsstelle der
Landesbeauftragten, Telefon 0385-734006,
E-Mail: post@lammv.mv-regierung.de
https://www.landesbeauftragter.de/publikationen/aktuelle-publikationen
Eintrag vom 31.10.2021 RÜCKGABE DER NAMEN
Am 29. Oktober, am Vorabend des in Russland offiziellen Gedenktages für die Opfer politischer Verfolgung, werden jedes Jahr in vielen russischen Städten die Namen derer gelesen, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Auch in diesem Jahr hat sich Memorial Deutschland e.V. dieser Gedenkveranstaltung angeschlossen und dazu eingeladen, gemeinsam am 29. Oktober 2021 von 17.00 bis 19.00 Uhr am Denkmal für die Opfer des Stalinismus auf dem Steinplatz in Berlin-Charlottenburg die Namen der aus Berlin und Brandenburg stammenden Opfer zu verlesen.
Von den 923 Zivilisten aus Deutschland, die zwischen 1950 und 1953 von Sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort erschossen wurden, kamen 241 Personen aus Berlin und Brandenburg. Die meisten Opfer wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert.
Die Opfer haben kein individuelles Grab, sie wurden heimlich erschossen. Im Rahmen der Veranstaltung möchten wir ihnen zumindest ihre Namen zurückgeben.
Anwesenden nahmen die Gelegenheit war, um auch andere für sie wichtige Personen, die Opfer sowjetischer Gewaltherrschaft wurden, vorzulesen.
Mit einem Hungerstreik begingen am 30. Oktober 1974 zum ersten Mal Gefangene aus Lagern in den Regionen Mordwinien und Perm den "Gedenktag für die politischen Gefangenen". Bis 1987 traten an diesem Tag immer Gefangene in den Hungerstreik. Ab 1987 fanden in großen Städten der Sowjetunion Demonstrationen statt und 1989 bildeten ca. 3.000 Menschen mit Kerzen in der Hand eine Menschenkette um das KGB-Gebäude in Moskau. Am 18. Oktober 1991 wurde der 30. Oktober vom Obersten Rat der Russischen Sowjetrepublik zum offiziellen "Gedenktag der Opfer politischer Verfolgung".
Bei schönstem Herbstwetter nahmen etwa 50 Teilnehmer an dieser Gedenkveranstaltung in Berlin-Charlottenburg am Steinplatz teil. Die Veranstaltung wurde von MEMORIAL organisiert mit ihren vielen Freunden und Sympathisanten aus Russland.
Barbara Hecht erinnerte an das Schicksal ihres Vaters Wolf Hinze.
Sabine Erdmann-Kutnevic (Vorstandsmitglied Memorial Deutschland) erinnerte in einer bewegenden Rede an ihren Onkel Hans-Jürgen Erdmann (väterlicherseits), der am 26. Juni 1952 in Moskau erschossen wurde.
Auch die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion nahm an der Namenslesung teil und erinnerte speziell an Erika und Günther Kunert und Alfred Nätke.
Erika Kunert, geboren 11.8.1925 in Jatznick / Pommern, hingerichtet 12.6.1952 in Moskau.
Zuletzt wohnte sie in Greifswald (MV). Kunert stammte aus einer Angestelltenfamilie und war nicht verheiratet. Erika Kunert wurde zusammen mit ihrem Bruder Günther am 2.11.1951 wegen angeblicher Spionage für die Franzosen verhaftet. Das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 verurteilte Erika Kunert zusammen mit Günther Kunert und Alfred Nätke am 7.3.1952 in Schwerin wegen angeblicher Spionage zum Tode durch Erschießen. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnte ihr Gnadengesuch am 7.6.1952 ab. Das Todesurteil wurde am 12.6.1952 in Moskau vollstreckt. Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der russischen Föderation (GWP) rehabilitierte sie am 28.11.1995.
Günther Kunert, geboren 18.10.1930 in Jatznick / Pommern, hingerichtet 12.6.1952 in Moskau.
Zuletzt wohnte er in Jatznick (MV). Kunert stammte aus einer Angestelltenfamilie und war nicht verheiratet. Er war Mitglied der FDJ und bei der Firma Fietz in Greifswald als Fotograf tätig. Günther Kunert wurde zusammen mit seiner Schwester Erika unter dem Vorwurf der Spionage für die Franzosen festgenommen. Das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 verurteilte Günther Kunert zusammen mit Erika Kunert und Alfred Nätke am 7.3.1952 in Schwerin wegen angeblicher Spionage zum Tode durch Erschießen. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnte sein Gnadengesuch am 7.6.1952 ab. Das Todesurteil wurde am 12.6.1952 in Moskau vollstreckt. Die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation (GWP) rehabilitierte ihn am 28.11.1995.
Alfred Nätke, geboren 5.1.1928 in Gollnow / Pommern, hingerichtet 12.6.1952 in Moskau. >/br> Zuletzt wohnte er in Jatznick (MV). Nätke stammte aus einer Arbeiterfamilie und war unverheiratet. Das FDJ-Mitglied studierte an der Ingenieurschule Wismar. Nätke soll angeblich im Oktober 1950 von seinem Freund Günther Kunert als Agent angeworben worden sein und für den französischen Geheimdienst gearbeitet haben. Er wurde am 12.11.1951 verhaftet. Das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 verurteilte Nätke zusammen mit Erika und Günther Kunert am 7.3.1952 in Schwerin wegen angeblicher Spionage zum Tode durch Erschießen. Das Präsidium des Obersten Sowjets lehnte sein Gnadengesuch am 7.6.1952 ab. Das Todesurteil wurde am 12.6.1952 in Moskau vollstreckt. Die Hauptmilitär-staatsanwaltschaft der Russischen Föderation (GWP) rehabilitierte ihn am 28.11.1995.
Sabine Erdmann-Kutnevic, Mein Onkel, die Wismut AG und Stalins Terror, Berliner Zeitung vom 29.10201:
Der Berliner Hans-Jürgen Erdmann starb 1952 mit 21 Jahren, erschossen in Moskau, vorher verurteilt durch ein SMT in Chemnitz. Heute wird er in Berlin geehrt. Seine Nichte erinnert an ihn.
https://www.berliner-zeitung.de/open-source/mein-onkel-die-wismut-ag-und-stalins-terror-li.189800
Die Aktion "Rückkehr der Namen" in Berlin für das Gedenken an die Opfer der Stalin-Repressionen wurde auch filmisch (3:13 Min.) festgehalten.
https://www.youtube.com/watch?v=h60CQ8e_ldk
Eintrag vom 28.10.2021 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Rudolf Jost wurde am 28. Oktober 2021 als 50. Biografie auf www.workuta.de veröffentlicht.
Eintrag vom 24.10.2021 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Werner Sperling wurde am 24. Oktober 2021 auf www.workuta.de veröffentlicht.
Eintrag vom 23.8.2021 DIE TRAUERUNFÄHIGE LINKE
Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus
Als Mahnung an den am 23. August 1939 geschlossenen "Hitler-Stalin-Pakt" (oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt) wird jährlich der "Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" begangen. Der Tag zum Hitler-Stalin-Pakt soll an alle Opfer von totalitären europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert erinnern und wurde durch die Prager Erklärung, die unter anderem von Vaclav Havel unterzeichnet wurde, 2008 angeregt und am 2. April 2009 vom Europäischen Parlament verabschiedet. In diesem Zusammenhang möchte die Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion an einen Artikel des 2014 verstorbenen Journalisten, Publizisten und Schriftstellers Ralph Giordano erinnern über die trauerunfähige Linke. Der Artikel erschien im SPIEGEL 1992. An Aktualität hat er nichts verloren.
Die trauerunfähige Linke
Von Ralph Giordano
Wer nach dem 8. Mai 1945 genau hingehört hat, der konnte es deutlich vernehmen: Nachdem ihr Anschlag auf Europa und die Welt gerade mit 50 Millionen Toten gescheitert war, wollten die Deutschen nur eines - geliebt werden. Die Kehrseite dieses realitätsfernen Seelenzustandes fast der ganzen Nation haben Alexander und Margarete Mitscherlich treffsicher in die Nußschale einer ebenso wissenschaftlichen wie allgemein verständlichen Definition gefaßt: "Die Unfähigkeit zu trauern".
In der (alten) Bundesrepublik folgte dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und aber Millionen Opfern das größte Wiedereingliederungswerk für Täter, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie letztlich nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren unbeschadet fortsetzen. Je höher sich die Kenntnis des Leichen-Himalajas türmte, desto schwieriger wurde es angeblich, dafür Täter haftbar zu machen.
Ich habe das die "zweite Schuld" genannt, nämlich die Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler, nach 1945. Der Untergang des Stalinismus hat es dabei nicht bewenden lassen. Nach der rechten, steht uns nun auch noch eine linke Unfähigkeit zu trauern ins gesamtdeutsche Haus.
Gemeint ist die Linke, die in der Unfähigkeit zu trauern verharrt, um ihre Lebenslüge zu schützen; die unsterbliche Kaste ewig oben schwimmender Fettaugen, die gestrengen Vorgesetzten von gestern, die zur Verblüffung ihrer einstigen Untergebenen auch heute wieder leiten und mit dem gewohnten Machtduktus lautlos aus den dürren Gefilden der staatlichen Kommandowirtschaft in die profitablen Gefilde sozialer Marktwirtschaft hinübergeglitten sind (unüberbietbar: Egon Krenz als Immobilienfritze).
Gemeint sind die Opportunisten mit dem siebten Sinn, die ihre halben Geständnisse und ganzen Rückzieher exkulpistisch vermarkten und dabei zynische Gelassenheit demonstrieren, voll der inzwischen erworbenen Routine, Bloßstellungen wegen gestriger Schurkereien abwinkend wegzustecken. Weshalb also sollte Hermann Kant trauern?
Aber die trauerunfähige Linke beschränkt sich keineswegs nur auf das Territorium der ehemaligen DDR. Fest integriert in sie sind natürlich auch die "fellow travellers" auf dem Gebiete der alten Bundesrepublik, die unermüdlichen "Friedenskämpfer", mancher von ihnen inzwischen sichtlich gealtert, aber immer noch mit eingefleischt kritischer Front allein gegen Westen, nach Osten also mit dem Rücken, wo bekanntlich keine Augen sitzen. Man verwechsele mir jedoch diesen Teil der trauerunfähigen Linken Deutschlands nicht etwa mit Lenins "nützlichen Idioten", deren Naivität sich immerhin auf politische Unzurechnungsfähigkeit berufen konnte.
Hier geht es vielmehr um beinharte Profis, die exakt wußten, was sie taten, darunter handverlesene Schriftsteller, die als Atheisten gelten, nun jedoch Tag und Nacht himmelwärts flehen: "Lieber Gott, laß meine Stasi-Akte unentdeckt!"
Seltsamerweise haben sie sich immer davor gehütet, daß ihr Flirt von westlichen Balkons aus in eine handfeste Ehe mit den Apparatschiks des Sozialismus selbst umschlug, Troubadoure des Stalinismus - aber ohne eigene Haftung. Ihre Logenplätze zwischen Hamburg und München wähnten sie weit genug entfernt von den östlichen Abgründen, um reinen Gewissens zu verleugnen, was sie darin nicht sehen wollten. Gegen diese Linke habe ich was. Ein einziges glaubwürdiges Dokument aus Deiner Feder, das Deine lebenslange Entsolidarisierung mit den Gulag- und Stasi-Opfern durchbricht - und ich zöge, was Deinen Fall betrifft, Bernt Engelmann, alles zurück.
Nicht weniger habe ich gegen jene, die jüngst noch die privilegierte Unterdrückerseite repräsentierten, also mithalfen, Millionen von Menschen das Leben zu stehlen, sich heute aber zu Anwälten, zu Beschützern der durch die Zeitläufte schwer hergenommenen ehemaligen DDR-Bevölkerung aufwerfen. Gegen diese Leute, die ständig ausposaunen, das Heute in den jungen Bundesländern sei viel inhumaner als seinerzeit Mauer, Mauertote, Überwachungsstaat, kollektiver Freiheitsentzug und Zwangsadoptionen - auch gegen diese Linken habe ich was. Sie tun das eigentlich Widerwärtigste, was heutzutage überhaupt getan werden kann: Sie versuchen, mit der Erblast des von ihnen seinerzeit mitgetragenen real existierenden Sozialismus diesen nostalgisch zu verklären und zu rechtfertigen.
Von Herzen habe ich auch etwas gegen Linke, in deren schlußgeschichtliche Utopie sich immer eine fiktive Demokratie installiert sah, indes sie die real existierende auf deutschem Boden zu ihrem klassengegnerischen Hauptfeind erklärt hatten. Nicht zum Aushalten die Stimmen aus der gleichen Wagenburg, die den soeben verblichenen Sozialismus in einen "guten" und einen "schlechten" aufteilen wollen - in einen der Kinderkrippen und einen anderen des Politbüros.
Ebenso unaufrichtig ist eine intellektuelle Linke, deren heftig demonstrierte Nibelungentreue zu den Idealen der Partei keinen anderen Sinn hat, als sich die eigene Lebenslüge zu erleichtern, und die sich nicht scheut, ihre nazigegnerische Vergangenheit zu beschwören, wenn ihr stalinistisches Mittätertum vorgehalten wird.
Aber die Sowjetunion war doch das entscheidende Bollwerk gegen Hitler-Deutschland, der Hauptnagel zum Sarg seiner Wehrmacht? Sehr wahr. Und deshalb Ehre, Ruhm und Dank der Roten Armee, die die größten Opfer bringen mußte. Aber für immer die Augen schließen vor der Tatsache, daß aus den Befreiern Unterdrücker geworden waren? Das ist der Stoff, aus dem die bitteren Lebenslügen so vieler alter Genossen und Genossinnen gehäkelt sind.
Der trauerunfähigen Linken, die jüdische Enklave eingeschlossen, schonungslos ins Stammbuch: Der staatlicherseits "verordnete Antifaschismus", der jede wirkliche Aufarbeitung des NS-Erbes in der DDR verhindert hat, war so einäugig wie das ganze System, das er repräsentierte. Schändlicherweise hat er sich dafür hergegeben, die Schreie aus dem Archipel Gulag mit den Schreien aus Auschwitz übertönen zu wollen. Mit der Legitimation eines Überlebenden des Holocaust fordere ich deshalb: kein KZ-, kein NS-Verfolgtenbonus als Aufrechnungspotential gegen stalinistischen Aktivismus.
Auf den Tisch auch mit der Wahrheit über jene Linken, die sich gegen jede tatsächliche oder vermeintliche Verfolgung und Unterdrückung in der westlichen Hemisphäre richteten, und sei die Gruppe der Betroffenen noch so klein, die aber nie auch nur eine Silbe über das Toten-Universum des Stalinismus verloren haben. Dafür verbrüderten sie sich mit jedem Potentaten, Despoten und Tyrannen in Asien, Afrika und Lateinamerika, der sich das Etikett "Sozialist" oder "Kommunist" um den blutigen Hals gehängt hatte.
Gegen diese Verfechter einer geteilten Humanitas, die im einen Teil der Welt bekämpften, was sie im anderen rechtfertigten oder verschwiegen, und sich auf dem linken Auge so blind stellten wie ihr Pendant auf dem rechten - gegen diese "Internationale der Einäugigen" habe ich was.
Dieselben Leute, die sich jede Parallelisierung ihrer heutigen Aufarbeitungsabwehr mit der von Hitler-Anhängern nach 1945 energisch verbitten, bringen sich durch ihr eigenes Verhalten in die Nähe der Entnazifizierungskümmerlinge von einst. Beide halten absichtsvoll Stalinismus und Nazismus als Meßmodelle aneinander, um zu dem jeweiligen Schluß zu gelangen, der eine sei "schlimmer" als der andere. Auf solchen Tiefpunkt, auf diesen Hund greulicher Analogien ist die trauerunfähige Linke inzwischen gekommen. Es gibt keinen Grund, sie für weniger erbärmlich zu halten als die Abwiegler, Beschöniger und Verdränger auf der Rechten.
Ja, Auschwitz war das größte Menschenschlachthaus der Geschichte, ich bin ein Anhänger der historischen Singularität des staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus. Aber wie verkommen muß man sein, diese Einzigartigkeit anzuführen, um dahinter die Monstrosität von Workuta zu verstecken? Wer eine Rangordnung von Opfern "1. und 2. Klasse" einführen will, der will das gleiche auch für Täter.
Als wenn ein Leichenberg dadurch aufgehoben wird, daß es noch andere gibt! Hier stinken zwei universale Scheußlichkeiten zum Himmel, und das ist die einzige Logik, die unser Jahrhundert und alle folgenden Jahrhunderte aus der Existenz von Nazismus und Stalinismus ziehen können.
Für die trauerunfähige Linke hat die Diskussion über einen künftigen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" noch eine spezifische Funktion, in die sie deshalb auch einen erheblichen Teil ihrer Verdrängungsenergien investiert - um abzulenken von ihrer Verantwortung für den tatsächlichen, den Sozialismus mit der unmenschlichen Fratze. Doch unbeeindruckt davon, entwirft ausgerechnet die trauerunfähige Linke mit Inbrunst die lichtesten Modelle einer Synthese von Sozialismus und Demokratie, Menschenrechten, Pluralismus, wirtschaftlicher Effizienz und faselt von "Erneuerung", statt angesichts der von ihr mitverursachten Erblast des real existierenden Sozialismus an dessen Aufarbeitung mitzuwirken.
Zeit endlich, meine biographische Legitimation für diesen Kahlschlag wider die trauerunfähige Linke Deutschlands vorzuweisen: den stalinistischen Täter Giordano, das Mitglied der KPD, Landesorganisation Hamburg, von 1946 bis 1957. Die Erklärung für den Beitritt: "Die Feinde (Kommunisten) meiner Feinde (Nazis) müssen meine Freunde sein!" Mit denen wollte ich die Welt bewohnbarer machen.
Eine Rechtfertigung kann die Blauäugigkeit des damals 22jährigen nicht sein, um so weniger, als er selbst zwölf Jahre Verfolgung hinter sich hatte. Es gibt keine Absolution für die innere Abstinenz, die Blindheit und die Taubheit gegenüber den Stimmen, die die Schrecken des Stalinismus in alle Welt hinausgellten, für den "guten Glauben", die Eröffnungen als kranke Phantasien des "Klassenfeindes" abzutun.
Obwohl schon so lange her, schaudert's mich immer noch bei der Erinnerung daran, was es persönlich hieß, Stalinist gewesen zu sein: ein Dauerzustand innerer Verkrampfung, die Brüskierung des eigenen Intellekts, die Einengung aller kreativen Fähigkeiten und die immer vervollkommnetere Gewandtheit, den für die eigene Überzeugung bedrohlichen Wahrheiten auszuweichen. Die Loslösung geschieht zunächst unsichtbar, mit der Langsamkeit, mit der sich zwei Eiszeiten ablösen, wird dann aber rascher und rascher, bis sich die Erkenntnis von der grandiosen Lüge nach dem Gesetz der Fallgeschwindigkeit vollzieht. Schließlich der Befreiungsschlag. Aber ausgestanden war es damit nicht, besonders wegen zwei erdrückender Parallelen zwischen meinen einstigen Verfolgern und mir.
Die erste - jene typische Gläubigkeit an einen Übervater, der bei denen "Hitler", bei mir aber "Stalin" hieß, Polit-Gott eines später dann als blödsinnig, lächerlich und höchst mörderisch begriffenen "Personenkults". Die zweite Parallele - der Verlust der humanen Orientierung, die bei äußerster Scharfsichtigkeit von politischen Verbrechen im Westen jene im eigenen Lager leugnete. Also: Teilung der Humanitas auch in mir - unentschuldbar.
Die Losung für den Täter nach Erkenntnis der Tat ist grausam. Sie lautet: Verteidige dich nicht - gestehe. Alles andere bedeutet: Du bleibst verkrüppelt, ja krepierst. Der Preis, die Versehrung ohne Selbstzerstörung zu heilen, ist hoch, und du zahlst ihn lange noch. Denn die Rehumanisierung nach der stalinistischen Entmenschlichung ist nicht umsonst, sie ist ein qualvoller Prozeß, der einen zeichnet. Der Lohn - je heftiger der Schmerz, desto tiefer die Erlösung. Schließlich die überwältigende Erfahrung: Unverzeihlicher, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen.
Hatte nicht für jede Generation von Kommunisten die Stunde der Wahrheit aufs neue geschlagen? Bei den Moskauer Prozessen 1936; am 17. Juni 1953; bei der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 oder dem Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes in die CSSR 1968?
Fest steht, daß es über die Dauer des real existierenden Sozialismus immer schwieriger wurde, sich taub und blind zu stellen; immer unglaubwürdiger, nicht wissen zu wollen, was gewußt werden konnte; immer unverständlicher, sich den grundlegenden Irrtum nicht einzugestehen.
Und wo steht Deutschlands trauerunfähige Linke 1992? Auch weiterhin in zäh behaupteter Koexistenz mit der Lüge.
Denn noch ist sie ziemlich lebendig, eingenistet in mancherlei Organisationen, publizistischen und schriftstellerischen Verbänden, nicht zuletzt im PEN, Ost und West.
Da Trauerunfähigkeit ein eigener, vereinheitlichender Standort ist, gleich, wo sie geortet wird, gibt es Überlegungen, ob diese Linke in Anführungsstriche zu setzen sei, ob nicht Fragezeichen angebracht wären - bedenkenswert.
Aber ungeachtet ihrer begriffsdiskriminierenden Existenz, will ich tun, was ich mein ganzes politisches Leben lang getan habe, erst recht nach dem Bruch mit der Partei: Ich will mich auch künftig einen Linken nennen - jedoch keinen "heimatlosen". Entdecke ich mich doch inmitten jener streitbaren Phalanx, in der ich auch Günter Kunert sehe und Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Freya Klier, Hans-Joachim Schädlich, Erich Loest, Helga Schubert, Chaim Noll - um nur einige der Namen zu nennen (und von denen etliche, wie tröstlich, einst ebenfalls im Irrtum des Stalinismus verfangen waren). Das ist meine, Deutschlands trauerfähige Linke.
https://www.spiegel.de/politik/die-trauerunfaehige-linke-a-43929fe4-0002-0001-0000-000013681929
...schließenEintrag vom 1.8.2021 WORKUTA-GEDENKTAG
Erinnerung an die blutige Niederschlagung des Streiks in Workuta am 1. August 1953.
In der Reihe der Aufstände gegen kommunistische Unterdrückung und Willkür gehört auch der hierzulande wenig bekannte Aufstand in Workuta. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kam es am 17. Juni 1953 in der DDR zum Volksaufstand. Selbst in der nord-östlichsten Stadt Europas, im 4.300 Km entfernten Workuta, keimte nach dem Tod des Diktators Hoffnung auf."Du sollst dich erinnern!" Freya Klier nennt es ihr 11. Gebot und greift so das jüdische Gedenkgebet JISKOR für die verstorbenen Angehörigen auf. Gedenke! Erinnere!
Die Überlebenden des Gulags Workuta müssen an dieses Gebot nicht erinnert werden. Es ist in ihnen in Körper und Seele eingeritzt oder eingebrannt. Und das können wir wörtlich nehmen.
Joachim Giesicke (1927–2012) wurde bei einer Explosion im Lager Inta am 24. Mai 1952 schwer verletzt, ihm flogen die Kohlestücke nicht nur um die Ohren. Es war genau 61 Jahre später als mir Frau Giesicke am 24. Mai 2013 ein Passfoto ihres verstorbenen Mannes zeigte, worauf in seinem Gesicht deutlich viele schwarze Punkte in der Haut zu erkennen waren. Die Explosion hatte Kohlepartikel in seine Haut eingraviert, die sich auch später nicht operativ entfernen ließen.
Und Warlam Schalamow (1907–1982) schreibt über seine Erinnerung an seine langjährige Haftzeit in der Kolyma: "Das Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind. Es gibt keinen Menschen, der aus der Haft zurückgekommen ist und auch nur einen einzigen Tag nicht an das Lager gedacht hätte, an die erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager."
Nur noch wenige Überlebende können uns vom Gulag Workuta erzählen, wo die Häftlinge am 1. August 1953 den Aufstand probten, der blutig niedergeschlagen wurde. Wie kam es zum Streik in Workuta?
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 und die Verhaftung des KGB-Chefs Lawrenti Berija am 26. Juni 1953 unter dem Vorwurf ein amerikanischer Agent zu sein, keimte Hoffnung auf, die bis nach Workuta strahlte. Am 17. Juni 1953 fand in der DDR einen Volksaufstand statt. Selbst im Gulag wagten es die Häftlinge zu streiken angefangen um die Tage des 23./24. Juli 1953 zuerst im 7. Schacht, danach in den Schächten 6, 12, 14, und 16. Die Arbeitsniederlegung im 29. Schacht (Lager 10) begann am 26. Juli 1953.
Zum Zeitpunkt des Aufstandes lebten im Lager 10 etwa 4000 Gefangene, vorwiegend Russen, aber auch viele Ukrainer und Balten und ca. 170 Deutsche.
Ein Streikkomitee wurde gebildet, das folgende Hauptforderungen in den Mittelpunkt stellte:
- Überprüfung aller Urteile
- Beendigung der Willkür, Folter und Misshandlung
- Erlaubnis der Kontaktaufnahme zu Verwandten (für Deutsche herrschte bis Ende 1953 strengstes Schreibverbot)
- Entlassung und Rückführung aller ausländischen Gefangenen
Die Niederschlagung
Der 1. August 1953, ein Samstag, war ein sonniger warmer Tag, ein strahlend blauer Himmel überdeckte die Tundralandschaft um Workuta. Es war ungewöhnlich warm mit Temperaturen von über 20°C.
Eine Kommission aus Moskau unter Leitung von Armeegeneral Maslennikow hatte zuvor die Forderungen des Streikkomitees abgelehnt, als am 1. August 1953 MWD-Soldaten die Wachttürme besetzen und das Lager umstellten. Die Streikenden waren zahlreich zum Lagertor geströmt und weigerten sich, wieder in die Schächte zu gehen. Sie riefen "Freiheit", "Freiheit"! als plötzlich ein MWD-Offizier durch das Lagertor einen polnischen Häftling erschoss. Hiernach eröffneten die Soldaten mit Maschinengewehren das Feuer. Mehrere Salven wurden in die Lagerstraße geschossen, wo sich ca. 1500 Häftlinge dicht gedrängt befanden.
Nachdem eine erste große Feuersalve auf die Häftlinge niederfegte, kehrte absolute Stille ein. Danach eröffneten die Soldaten erneut Feuersalven auf die am Boden liegende Menschenmenge. Blutüberströmte, schreiende und stöhnende Häftlinge gaben ein Bild des Grauens ab. Heini Fritsche erlitt einen Hals- und Armdurchschuss. Seine Kameraden Dietmar Bockel (1930–2019) und Sigurd Binski (1921–1993) trugen ihn aus dem Lager. Seine Erinnerung hat er in einem Bericht (Begegnungen in WORKUTA – Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente) festgehalten.
"Sie legten mich vor das Lagerkrankenhaus ab. Ringsherum ein furchtbares Jammern und Stöhnen. Ein paar 'stille' Kameraden lehnten an der Wand des Hauses – Karl Schmid aus Graz/Steiermark und Wolfgang Jeschke aus Berlin. Ersterem hatte man eine Hand abgeschossen, woran er verblutete, der andere hatte einen Bauch- oder Leberschuss erhalten. Seine Hände verkrampften sich im Tode auf dem Leib. Später erfuhr ich, dass mein guter Kamerad Gerd Kirsche, aus Waldheim Sachsen gebürtig, zuletzt in Rittersgrün/Vogtland lebend und dort verhaftet, mit einem Kopfschuß endete."
Bei der Niederschlagung wurden 64 Häftlinge getötet und 123 schwerstverletzt. Unten den Toten waren vorwiegend Ukrainer, aber auch viele Balten, ein Österreicher und zwei Deutsche. Es ist Horst Hennig (1926–2020) zu verdanken, dass die Namen von 53 Personen festgehalten werden konnten. Sie sind verscharrt im Permafrost um das Lager 10.
Horst Schüler (1924–2019) gedachte seinem Kameraden Gerd Kirsche am 17. März 1995 in folgender bewegenden Ansprache auf der Veranstaltung „Vergessene Opfer“ in der Kirche St. Michaelis in Hamburg.
Ansprache Horst Schüler
"Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Gefährtinnen aus den Lagern und Gefängnissen des Archipels Gulag!
Darf man eigentlich in dieser Umgebung von Leid, von Grausamkeit, von Folter, Verzweiflung und all dem sprechen, was Menschen durch andere Menschen erlitten haben? Menschen, die nichts anderes taten, als sich gegen Unterdrückung zu wehren? Diese Frage hat mich in den letzten Tagen sehr bewegt. Warum?
Weil wir uns in einer Kirche befinden, in einem Haus Gottes, wo doch tagtäglich die Barmherzigkeit und Güte im Mittelpunkt des Wortes stehen. Wo man uns auffordert, den Nächsten zu lieben und ihm zu vergeben, so es etwas zu vergeben gibt.
Darf also ausgerechnet an einem solchen Ort ein Plädoyer dafür gehalten werden, das Unrecht, den Terror, die Gewalt gegen Wehrlose nicht zu vergessen? Eben nicht alles mit verzeihender Liebe zuzudecken, was der Hass gesät hat? Weckt das nicht allzu sehr den Verdacht, es gehe eigentlich lediglich um Rache?
Ja, diese Frage beschäftigte mich lange, als ich mich auf den heutigen Abend vorbereitete. Sie machte mich unsicher, löste Selbstzweifel aus – bis mir schließlich bewusst wurde, dass ja auch in Gotteshäusern schon immer ein Beweis menschlicher Willkür zu sehen ist. Ja, dass dieser Willkür gewissermaßen ein Symbol unseres Glaubens entgegengesetzt wurde:
Dort, der ans Kreuz geschlagene Sohn Gottes! Von Menschen wurde er gefangengesetzt, von Menschen verurteilt, von Menschen auf das Unerträglichste gequält. Und in der Stunde seines Todes noch verhöhnt: Eine Dornenkrone setzten die Folterknechte ihm auf und riefen: Bist Du Gottes Sohn, dann hilf Dir selbst!
Willkür! Willkür in ihrer schrecklichsten Form. Jemanden gefangen nehmen, dessen Anspruch und Meinung wir nicht teilen, ihn deshalb foltern, verhöhnen, ihn töten.
Nun gut, werden vielleicht manche versuchen abzuschwächen, vor zwei Jahrtausenden geschah das. Die Menschen waren damals roher, unbedenklicher in ihren Handlungen gegen andere. Welch Argument! Als ob wir in den zweitausend Jahren seit der Kreuzigung Christi auch nur ein wenig an Rohheit verloren hätten. Als ob wir nicht beinahe täglich von unvorstellbaren Grausamkeiten hören und lesen können, selbst gegen die Wehrlosesten unter uns, die Kinder.
Nichts haben wir gelernt, absolut nichts. Wir bekriegen uns weiter, wir schlagen uns tot, einer anderen Ideologie, eines anderen Glaubens wegen. Von Golgatha führt ein direkter Weg nach Dachau, Sachsenhausen, Auschwitz, Workuta, Magadan, Bautzen. Und die nächsten Stationen stehen bereits im Buch der Geschichte – Sarajevo heißen sie, Grosny, Somalia.
Keine Angst, es werden nicht die letzten sein. Wir Menschen lieben die Gleichnisse, doch wir sind nicht bereit, aus ihnen zu lernen.
Ich denke also, gerade hier, in einer Kirche, sollte erzählt werden, wie Menschen die Nächstenliebe mit Füßen treten. Und vielleicht sogar noch glauben, sie hätten recht damit gehandelt.
Kann man das mit Zahlen deutlich machen? Etwa mit der – noch dazu ungewissen – Aussage, dass in den Jahren der kommunistischen Herrschaft in Deutschland einige hunderttausend Menschen verhaftet wurden, nur weil sie in Freiheit leben wollten?
Ach, diese unnahbaren Zahlen! Statistiker mögen aus ihnen etwas entnehmen doch was können sie uns anderen schon mitteilen vom Leid des einzelnen? Wer ahnt hinter Zahlen etwas von persönlichen Schicksalen? Von dem Mann etwa, der zehn Jahre in einem sowjetischen Lager verbrachte, stets am Rande des Todes, am Leben gehalten nur durch den Glauben an seine Frau, der dann heimkehrte, sie in den Armen eines anderen vorfand und sich deshalb aus dem Fenster stürzte? – Wer ahnt hinter kalten Zahlen etwas von diesem Stralsunder Seefahrer, der just an dem Tag, an dem er aus dem Lager heimgeschickt werden sollte, im Bergwerk erschlagen wurde? – Oder von diesem Unglücklichen, den sie nach der Heimkehr in Thüringen psychiatrisch behandelten, einen gesunden Menschen in eine Anstalt gesteckt, nur weil er noch immer nicht so dachte, wie sie ihn zu denken zwingen wollten? – Oder von dieser Frau, die schwanger verhaftet wurde und ihre Tochter in der Festung Hoheneck zur Welt brachte?
Nein, keine Zahlen. Terror wird nur sichtbar an Schicksalen.
- Hans-Gerd Kirsche
Deshalb möchte ich Ihnen also von Gerd Kirsche berichten – als ein Beispiel für unzählige solcher Schicksale. Obwohl es herzlich wenig ist, was ich von Gerd Kirsche weiß. Nichts von seiner Kindheit, nicht, ob er ein guter Schüler war oder ein schlechter, ob er eine Freundin hatte, ob er jemals glücklich war. Nein, wo wir uns trafen, das war kein Ort an dem man vom Glücklich sein erzählte.
Ich hatte Gerd Kirsche oben im eisigen Norden Russlands kennengelernt, jenseits des Polarkreises, wo die Schneestürme mit hier unvorstellbarer Gewalt über die baumlose Tundra fegen, wo das Thermometer manchmal bis unter die 60-Grad-Grenze sinkt, wo acht Monate im Jahr Winter herrscht, schrecklicher Winter. Seit den 1930-er Jahren hatten die Schergen Stalins tausende und abertausende Menschen dorthin verschleppt. Als wir hinkamen, da gab es immerhin schon feste Lager, Baracken, die ein wenig Wärme spendeten. Die ersten der armen Teufel, die in den Norden gebracht wurden, sie mussten sich noch Löcher in den ewig gefrorenen Boden schlagen, mussten in diesen Erdhöhlen hausen, dicht aneinander gepresst, um sich am Körper des anderen gegen den Frost zu wehren.
Workuta, ein berüchtigter Name im Katalog des Archipel Gulag, mehr als vierzig Lager, an die 200 000 Häftlinge, die meisten politische Gegner, Sklavenarbeit in Bergwerken, jeder Tag ein Tag ohne Hoffnung. Jeder Tag ein Tag der Verzweiflung.
1951 traf ich Gerd Kirsche im Lager des 29. Schachtes. Knapp über 20 war er damals. Manchmal erzählte er vom sächsischen Waldheim, wo er herstammt, doch das war nichts Besonderes, wir erzählten alle von unserer Heimat, es war das einzige, was uns für ein paar Minuten aus der Trostlosigkeit holte.
- Werksausweis Wismut AG
Vor seiner Verhaftung war Kirsche Geologietechniker bei der Wismut-AG in Aue gewesen. Bis sie ihn 1951 holten. Es war das Übliche: Untersuchungshaft, Schläge, Dunkelzelle, Folter, jede nur erdenkliche Form der Folter. Nach ein paar Wochen hatten sie ihn mürbe gemacht, er unterschrieb alles an russischen Protokollen, was er ohnehin nicht lesen konnte. Dann Militärtribunal, 25 Jahre Zwangsarbeit, Abtransport in die Sowjetunion.
Spionage und Zersetzungsarbeit hatten sie ihm vorgeworfen, auch das hielt sich im üblichen Rahmen. In Wahrheit hatte er in West-Berlin lediglich über die katastrophale Sicherheitstechnik und den mangelhaften Arbeitsschutz in den Schächten des Uranbergbaus erzählt. Kein Mensch würde heute darin etwas Ungewöhnliches sehen, schon gar nicht etwas Unerlaubtes. Damals jedoch genügte das.
Immerhin, Gerd Kirsche hatte noch Glück. Seine beiden mit ihm verhafteten Freunde wurden zum Tode verurteilt und erschossen. Das Glück des Gerd Kirsche bestand darin, dass er die beiden um knapp zwei Jahre überlebte. Ob das allerdings wirklich ein Glück war, dieses Leben?! Nach den zwei Jahren wurde auch er erschossen.
Es war im Sommer 1953. Ein paar Monate vordem, im März, war Stalin gestorben. Doch die Hoffnungen der Sträflinge, dass sich nach dem Tod des Diktators etwas zu ihren Gunsten ändern würde, sie wurden von Tag zu Tag weniger. Dafür wuchs die Verzweiflung ins Riesenhafte. Im Juli schließlich entlud sie sich. Die Gefangenen mehrerer Lager in Workuta verweigerten die Arbeit. Sie streikten. Nicht nur das: Sie übernahmen die Kontrolle in den Lagern, sie verboten den Wachmannschaften, die Lagerzone zu betreten, sie lehnten Gespräche mit dem KBG-Kommandeur von Workuta ab, stattdessen forderten sie den Besuch einer hochrangigen Moskauer Kommission. Was hatten sie auch noch zu verlieren?
Die Kommission aus Moskau kam. An ihrer Spitze ein hochdekorierter Held der Sowjetunion und stellvertretener Innenminister: Armeegeneral Maslennikow. Er kam mit seiner Delegation ins Lager des 29. Schachtes, hörte sich die Wünsche der Häftlinge an und ließ in diesem Lager einen Tag später ein grausames Exempel exerzieren, um dem Aufstand in der Region ein Ende zu bereiten. Er ließ das Lager umstellen, ließ Truppen wahllos in die Menge der Gefangenen schießen. In dem Feuerhagel wurden viele hundert Menschen verwundet und 64 getötet.
Einer von ihnen war Gerd Kirsche. 23 Jahre alt. Unter uns wenigen Deutschen dieses Lagers - knapp mehr als hundert waren wir unter rund 4000 Gefangenen aus allen Teilen der Sowjetunion - , unter uns Deutschen also hatte er eigentlich immer zu den Hoffnungsvollen gehört. Ihr werdet sehen, eines Tages schicken sie uns heim, hatte er manchmal gesagt.
Jetzt liegt er irgendwo in der Tundra, zumeist unter Schnee- und Eisbergen. Es gibt kein Grab von ihm, es kann niemand eine Blume für ihn niederlegen. Nur eine Akte gibt es in Workuta noch von Gerd Kirsche. Von Wolfgang Jeschke übrigens auch. So hieß ein anderer Deutscher, der bei diesem Blutbad in Anwesenheit eines stellvertretenen Innenministers der Sowjetunion und des Generalstaatsanwalts Rudenko erschossen wurde. Der war noch wenige Jahre zuvor sowjetischer Generalankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gewesen. Jetzt ließ er es tatenlos zu, dass wehrlose Menschen niedergemetzelt wurden.
Das wäre dann auch schon die Geschichte von Gerd Kirsche. Bis auf eine Kleinigkeit. Vor wenigen Monaten kam nämlich Post aus Moskau nach Deutschland. In einem knappen Bescheid teilte die Generalstaatsanwaltschaft der russischen Föderation mit, dass der deutsche Staatsbürger Kirsche, Hans-Gerd, unbegründet verurteilt worden sei und er postum vollständig rehabilitiert werde.
Interessiert das noch jemanden? Wer ist schon dieser Gerd Kirsche, dieser Wolfgang Jeschke? Wer weiß denn überhaupt von diesem Aufstand? Wer weiß etwas von Workuta? Wer erinnert sich noch, dass in diesen März-Tagen vor 45 Jahren verzweifelte politische Häftlinge aus den Fenstern des Bautzener Gefängnisses ihre Not hinausgeschrien und um Hilfe flehten? Wer denkt noch daran, dass sie deshalb brutal zusammengeknüppelt wurden?
- Personalausweis
Nein, Gerd Kirsche ist nur eines von vielen Opfern, die vergessen worden sind. Lasst die alten Geschichten ruhen, sagt man uns manchmal. Obwohl ja diese alten Geschichten gar nicht so alt sind. Denn der Terror beschränkte sich ja längst nicht auf die ersten Jahre nach dem Krieg, er setzte sich in Bautzen, in der Festung Hoheneck, in Torgau, Brandenburg, Halle kontinuierlich fort, bis in die letzten Tage der DDR.
Gut, vielleicht waren sie nicht mehr ganz so brutal, wie in den vierziger und fünfziger Jahren. Doch auch das nicht etwa aus gewachsener Humanität, nein, sie waren nur schäbig genug ihre Opfer von der Bundesrepublik freikaufen zu lassen, um mit dem Schandgeld ihren maroden Haushalt zu sanieren. Menschenfleisch verkauften sie an den Klassenfeind, hat Wolf Biermann dies einmal genannt.
Und das ist alles nur ein paar lächerliche Jahre her!
Doch es scheint unbequem, daran zu erinnern. Und statt sich der Opfer anzunehmen, interessieren sich viele eher für die Täter. Täter, die manchmal so schamlos sind, ihre Tätigkeit als Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes noch offen zuzugeben, damit kokettieren. Die kein Wort der Entschuldigung für ihre Opfer finden, nur für sich selbst. Und die nahtlos weiterhin Politik machen, sich zur Wahl stellen, als sei nichts geschehen, sogar gewählt werden.
Ja, sie haben es sich sehr bequem gemacht in den Polsterstühlen des einst so bekämpften Klassenfeindes. Und sicher haben sie ihre helle Freude an der sogenannten Amnestie-Debatte, an den Forderungen demokratischer Politiker, die Gauck-Behörde aufzulösen, die Stasi-Akten zu schließen. Üble Gerüche kämen aus diesen Akten hoch, hat unser Bundeskanzler Kohl einmal gesagt. Ja, was denn wohl sonst? Was soll denn aus diesen Belegen der Bespitzelung, der Denunziation, der Beobachtungen, des Abhörens anderes hochkommen? Und beseitigt man üble Gerüche etwa durch Auflösungs-Dekrete?
Schuld kann man nicht durch Verdecken aus der Welt schaffen, hat der russische Oberst Wollin auf dem Bautzen-Forum 1994 gesagt. Oberst Wollin ist Militäroberstaatsanwalt in Moskau. Seine Erkenntnis würde man so manchem sogenannten Intellektuellen bei uns wünschen, der da meint, die Stasi-Akten hinderten unser Volk am Zusammenwachsen. Seltsamerweise sind es oft dieselben, die beklagen, dass man gegen manche Täter des NS-Regimes zu viel Milde habe walten lassen. Zu Recht übrigens, diese Klage, damit wir uns richtig verstehen. Nur: Warum unterscheiden sie plötzlich zwischen Unmenschlichkeiten?
Können Sie, verehrte Besucher dieser Veranstaltung, können Sie verstehen, dass wir verbittert darüber sind? Dass manchem von uns die blanke Wut packt und andere resignieren wie Dieter Rieke, viele Jahre politischer Häftling in Bautzen und Mitbegründer des Bautzen-Forums, einmal gesagt. Wir sehen die Täter behaglich in Talk-Shows plaudern, wir erleben eine Renaissance stalinistischen Denkens, wir hören, wie sie uns Siegermentalität vorwerfen und wie manche die Schicksale der Täter für bemitleidenswerter finden als die ihrer Opfer. Für interessanter auf jeden Fall. Glauben Sie nicht, das sei übertrieben.
Ich bin selbst im letzten Moment von einer Talk-Show ausgeladen worden, dafür erschien dann ein informeller Mitarbeiter der Stasi in der Runde, der sich um den Posten eines Oberbürgermeisters bewarb – es fast auch noch geworden wäre. Und von ähnlichen Erfahrungen könnte ich Ihnen viel erzählen, wie sicher auch alle meine Gefährten, die wie ich das Glück hatten, der Mordmaschine entkommen zu sein.
Die Erfahrung des Vergessen-werdens ist eine, die wir machen, eine andere ist fast noch bitterer. Denn zwischen den Opfern des Nationalsozialismus und denen des Kommunismus gibt es Missverständnisse, die wir nicht wollen und tief bedauern. An den Leidensstätten, die ja oft dieselben waren, wollen die Verbände der NS-Opfer kein gemeinsames Gedenken. Offenbar verwechseln sie die nach dem Krieg von den Sowjets zu Recht eingekerkerten Schergen und Mörder der Konzentrationslager mit den vielen, vielen anderen, die als Widerständler gegen ein neues Terrorsystem verhaftet wurden. Ja, die manchmal sogar unter beiden Regimen leiden mussten. Sozialdemokraten etwa, die sich gegen die Zwangsvereinigung zur SED wehrten und deshalb zu tausenden in die Gefängnisse und Lager wanderten.
Wir Opfer des Kommunismus bedauern diese tragischen Missverständnisse sehr. Wir wissen sehr wohl um den Unterschied zwischen beiden Terrorherrschaftern, wir vergessen nicht, dass es bei den einen um eine industrielle Vernichtung ganzer Volksgruppen ging, um die Endlösung einer verbrecherischen Rassenideologie. Derweil die Stalinisten ihre Gegner mit Sklavenarbeit belegten, oft allerdings auch bis zur physischen Vernichtung. Und wie viele Seelen zeitlebens zerstört wurden, weiß niemand."
Hans-Gerd Kirsche, geb. am 21.11.1929 in Waldheim / Kreis Döbeln. Er arbeitete bei im Uranerzbergbau bei der Wismut AG. Gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen Gerhard Fieker und Axel Weidenberg beschwerte er sich über die schlechte Sicherheitstechnik und über mangelnden Arbeitsschutz. Im März 1951 wurden sie in Johanngeorgenstadt verhaftet und am 16. August 1951 von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt.
Axel Weidenberg, geb. am 12.7.1924 in Meißen / Sachsen, verheiratet und Vater von zwei Kindern und Gerhard Fieker, geb. am 9.3.1927 in Magdeburg, wurden wegen Spionage zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach Ablehnung der Gnadengesuche wurden beide Urteile am 1. November 1951 im Moskauer Butyrka-Gefängnis vollstreckt.
Die Toten vom Lager 10/Schacht 29, erschossen am 1. August 1953
- ANDRUSSISCHIN, Dmitri Iwanowitsch, 28 Jahre, Ukrainer
- BARNATAWITSCHUS, Awgustinas, 41 Jahre, Litauer
- BATSCHINSKI, Josif Adolfowitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- BELJAWSKI, Wassili Iwanowitsch, 27 Jahre Weißrusse
- BOTSCHEWSKI, Jaroslaw Michailowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- DMITRIK, Stach Ignatowitsch , 48 Jahre, Ukrainer
- DOWBYSCH, Wladimir Grigorjewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- DUMA, Fjodor Stepanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- FESCHTSCHUK, Miroslaw Nikolajewitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- GAWTSCHAK, Anton Lukjanowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- GERTSCHISCHIN, Michail Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- GILEZKI, Wassili Iljitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- GOWDA, Jaroslaw Wassiljewitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- GUK, Wassili Semjonowitsch, 38 Jahre, Ukrainer
- IGNATOWITSCH, Witold Antonowitsch, 24 Jahre, Pole
- JANOWITSCH, Juri Iwanowitsch, 37 Jahre, Ukrainer
- JESCHKE, Wolfgang, 21 Jahre, Deutscher
- KAJRIS, Kasis, 36 Jahre, Litauer
- KASANAS, Afanasius, 55 Jahre, Litauer
- KATAMAJ, Wladimir Wassiljewitsch, 24 Jahre, Ukrainer
- KILBAUSKAS, Atanas, 30 Jahre, Litauer
- KIRSCHE, Hans-Gerd, 24 Jahre, Deutscher
- KLASSEN, Juri Teodorowitsch, 37 Jahre, Este
- KOSTIW, Michail Wassiljewitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- KUKK, Karl Jochannessowitsch, 34 Jahre, Este
- LAJZONAS, Alfonassas, 25 Jahre, Litauer
- LEWKO, Iwan Petrowitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- LINNUK, Pjotr Jegorowitsch, 47 Jahre, Este
- LUKANJEZ, Wladimir Pawlowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- MARSCHALOK, Michail Petrowitsch, 43 Jahre, Ukrainer
- MARTINAWITSCHUS, Witolus, 24 Jahre, Litauer
- MENDRIKS, Janis Antonowitsch, 49 Jahre, Lette
- MIKOLISCHIN, Jemeljan Stepanowitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- MITROGAN, Jaroslaw Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- MILKAUSKAS, Wazlowas, 28 Jahre, Litauer
- OCHAKAS, Juri Juchanowitsch, 45 Jahre, Este
- OLCHOWITSCH, Wladimir Kondratjewitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- PANSCHTSCHENJUK, Jakow Wassiljewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- PETERSONS, Elmars, 28 Jahre, Lette
- PETRUNIW, Josif Grigorjewitsch, 33 Jahre, Ukrainer
- POWROSNIK, Konstantin Saweljewitsch, 26 Jahre, Ukrainer
- PUKIS, Josas, 23 Jahre, Litauer
- SAKOWITSCH, Wladimir Aleksandrowitsch, 44 Jahre, Pole
- SCHKODIN, Stefan Iwanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- SCHMID, Karl, 48 Jahre, Österreicher
- STRUZ, Wassili Ostafewitsch, 21 Jahre Ukrainer
- TSCHECHAWITSCHUS, Mikolas, 34 Jahre, Litauer
- TSCHEPEGI, Iwan Iwanowitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- TSCHERJOMUCHA, Stepan Potapowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- TSCHERNEZKI, Bogdan Stanislawowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- TSCHUNIS, Semjon Gawrilowitsch, 46 Jahre, Ukrainer
- WELITSCHKO, Edwardas, 24 Jahre, Litauer
- WISOZKI, Igor Wladislawowitsch, 35 Jahre, Russe
- Hedeler, Wladislaw/Hennig, Horst (Hg.):
Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipzig (Universitätsverlag) 2007. - Wiemers, Gerald (Hg):
Der Aufstand. Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29. In Zusammenarbeit mit der "Lagergemeinschaft Workuta/GULag", Leipzig (Universitätsverlag) 2013.
Auswahlliteratur
- Die ehemaligen politischen Häftlinge Horst Hennig, Dietrich Hartwig, Bernhard Schulz, Horst Maltzahn, Heini Fritsche, Erwin Jöris, Roland Bude und Günter Müller-Hellwig (v.l.n.r.) bei der Einweihung der deutschen Gedenkstätte auf dem Gräberfeld des ehemaligen 29. Schachts am 1. August 1995.
Eintrag vom 29.3.2021 PETRA KORTSCHNOJ IST TOT
Am 15. März 2021 verstarb Petra Kortschnoj (geb. Hajny) an ihrem 93. Geburtstag.
Ein Nachruf von André Schulz
- Petra Kortschnoj, Jahrestreffen Lagergemeinschaft, 2014, Karlsruhe.
Als junge Frau gehörte sie nach dem Krieg in der DDR einem Kreis christlicher Studenten an, deren Aktivitäten den Behörden ein Dorn im Auge war. Als Petra Leeuwerik (geb. Hajny) Wien besuchte, damals noch in Besatzungszonen geteilt, wurden sie von sowjetischen Agenten in die sowjetische Zone verschleppt und wegen Spionage zu zehn Jahren Arbeitslager in Workuta (Sibirien) verurteilt.
https://de.chessbase.com/post/petra-kortschnoj-1928-2021
...schließenEintrag vom 28.3.2021 NEUE BIOGRAFIE
Die Biografie von Günther Rehbein wurde am 27. März 2021 auf www.workuta.de veröffentlicht.
Eintrag vom 28.2.2021 EDITH FADTKE IST TOT
Am 17. Februar 2021 verstarb Edith Fadtke kurz vor ihrem 91. Geburtstag in Berlin.
Ein Nachruf von Edda Ahrberg
- Edith Fadtke, Neuhardenberg 2012. Reden, wie der Schnabel gewachsen ist, mit Herz und Berliner Schnauze.
Edith Stolzenburg kam 1952 im Alter von 22 Jahren nach Workuta am Polarkreis. Ein sowjetisches Militärtribunal hatte sie unter dem Spionagevorwurf zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges absolvierte sie eine Ausbildung zur Russisch-Lehrerin, merkte aber schnell, dass das nicht das Richtige für sie war und beendete diese berufliche Laufbahn. Auf Grund ihrer Sprachkenntnisse fand sie jedoch in ihrer Heimatstadt Eberswalde Arbeit als Übersetzerin in einem Versorgungslager der Besatzungsarmee. Zukünftig hatte sie Revisionen in verschiedenen Standorten Brandenburgs durchzuführen und kam dadurch viel herum. Als der Bekannte einer ehemaligen Kollegin sie nach West-Berlin einlud, fuhr sie neugierig hin. Später, 2013, wird Edith Fadtke sagen: "Das war die dümmste Idee meines Lebens natürlich." Denn er überredete sie, in der DDR die Kennzeichen sowjetischer Militärfahrzeuge zu notieren: "Ich war naiv genug, das interessant zu finden". "Das" blieb damals nicht unbeobachtet und sie wurde verhaftet.
In Workuta hatte sie mit anderen Frauen Eisenbahngleise zu verlegen. Das war eine schwere körperliche Arbeit ohne maschinelle Unterstützung bei härtesten Witterungsbedingungen, denen die Frauen anders als die Männer, die vorwiegend unter Tage in den Kohleschächten arbeiten mussten, ausgesetzt waren. Sie berichtete 2013, dass sie einmal 40 Kleidungsstücke gezählt habe, die im Winter vor der Kälte schützen sollten und die doch unzureichend waren. Den Tagesbeginn erinnerte sie wie folgt: "Das Lagerleben war insofern ganz einfach. Morgens, da war so [etwas] aufgestellt wie ‘n Galgen. Da hing ‘n etwa 2 m langes Stück Eisenbahnschiene dran. Und wenn Wecken angesagt war, dann schlug Eene mit ‘ner großen Brechstange gegen selbige Schiene. Das dröhnte bis an ’n Nordpol. Allet war wach!"
Ende 1954 begann der Abtransport der ausländischen Häftlinge aus Workuta über etliche Stationen nach Süden. Nachdem Edith Stolzenburg in Potma noch am Fließband Uniformen nähen musste, wurde sie schließlich im Oktober 1955 nach Eberswalde entlassen. Zehn Tage später floh sie nach West-Berlin und wohnte dort bis zu ihrem Tod am 17. Februar 2021, kurz vor ihrem 91. Geburtstag. Sie fehlt als eine wichtige Zeitzeugin und sie fehlt als Mensch mit ihrem vehementen Anspruch, dass auch ihre Stimme gehört wird, und mit ihrem unverwechselbaren Humor.
Eine Rehabilitierung durch die russische Militärstaatsanwaltschaft in Moskau hat Edith Fadtke nie beantragt. Sie sagte dazu: "Ick wees ja, wo ick war."
...schließenEintrag vom 18.2.2021 ZUM 100. GEBURTSTAG VON SIGURD BINSKI
Am 18. Februar 1921 wurde Sigurd Binski in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus in Berlin geboren. Heute jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal.
Das Schicksalsdatum im Leben des Sigurd Binskis war der 30. März 1951. Als Student der Psychologie, Philosophie und Germanistik an der Bonner Universität stand er kurz vor dem Abschluss seiner Dissertation als er seine Eltern in Tiefensee bei Berlin besuchte. Am Alexanderplatz in Berlin wurde er festgenommen und verschleppt. Für seine Eltern, die jahrelang vergeblich nach ihm suchten, war er spurlos verschwunden. Alle ihre Eingaben an den Staats- und Ministerpräsidenten der DDR landeten umgehend bei der Stasi.
Erst nach seiner Rückkehr am 15. Oktober 1955 wurde klar, was passiert war. Am 26. September 1951 war Sigurd Binski durch ein Sonderkollegium des NKWD im fernen Moskau zu 10 Jahren Arbeits- und Besserungslager verurteilt worden. Danach ging es für ihn über Berlin-Lichtenberg in den GULag nach Workuta, wo er viereinhalb Jahre Zwangsarbeit leistete.
Sigurd Binski berichtete später, dass er nur dank seiner guten körperlichen und seelischen Verfassung und seiner eisernen Disziplin die harte körperliche Arbeit überstehen konnte. Er musste tonnenschwere gefrorene Baumstämme auf einem Holzplatz bei Temperaturen bis zu -40 Grad Celsius entladen. Kleinste Schwächen oder Unaufmerksamkeiten hätten zu schwersten Verletzungen führen können. Er war gefangen im Lager 10/Schacht 29 mit etwa 3000 bis 4000 weiteren Häftlinge, darunter ca. 170 Deutsche.
Das Schlüsselerlebnis war für ihn der Generalstreik im Juli 1953, als die Häftlinge nach Stalins Tod die Überprüfung ihrer unverhältnismäßig hohen Haftstrafen forderten. Bei der Niederschlagung des Streiks am 1. August 1953 wurden 64 Häftlingen erschossen und 123 schwer verletzt. Unter den Schwerstverletzten waren auch seine Kameraden Heini Fritsche und Bernhard Schulz.
Unmittelbar nach seiner Freilassung und Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland wurde er aktiv in der VOS und wurde Redakteur und später Leiter der Zeitschrift Die Freiheitsglocke. Bis zum seinem Tod am 11. Dezember 1993 schrieb er über 200 Artikel für Die Freiheitsglocke, immer beseelt Rechtstaat, Demokratie und Freiheit gegen jegliche Art totalitärer Systeme und Bedrohungen zu verteidigen.
Bereits 1957 gründete er die Lagergemeinschaft Workuta, deren jährliche Treffen zunächst nur im engeren Kreise der Kameraden aus dem 10. Lager / 29. Schacht stattfanden.
In seinen Beiträgen für Die Freiheitsglocke hat sich Sigurd Binski immer wieder mit dem Verhältnis von Kommunismus und Menschenrechten beschäftigt, so u.a. in der 438. Ausgabe im Juni 1988.
Erstabdruck: FREIHEITSGLOCKE, 38. JG., Juni 1988, Nr. 438, S. 1-2.
Ändert sich der Kommunismus?
Diese Frage ist aktuell, seit das schnauzbärtige Ungeheuer Stalin im Jahre 1953 starb. Aber vielen Menschen ist sie erst interessant geworden, seit dessen sechster Nachfolger, Gorbatschow, den "Umbau" (Perestroika) des sowjetischen Systems zum Prinzip erhoben hat.
Zwei Antworten auf die Frage sind einfach, aber falsch. Die erste: "Der Kommunismus ändert sich nicht. Das ist alles nur eine gigantische Irreführung". Und die zweite: "Die Kommunisten sind auf dem Wege zur Anerkennung der Menschenrechte und zur Demokratie". Die Realität ist komplizierter.
Dass sich das Sowjetsystem - lange Zeit unantastbares Vorbild aller "Bruderparteien" - seit Jahrzehnten ändert, ist unbestreitbar. Die erste Periode beachtlicher Veränderungen begann bald nach Stalins Tod. Beim XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 erwähnte Chruschtschow erstmals die Verbrechen Stalins.
Danach wurden in aller Stille über 600.000 ermordete Parteimitglieder rehabilitiert. Eine wirkliche Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit wurde aber gar nicht erst versucht. Alle damals herrschenden Genossen, die ganze "Nomenklatura", hatten ja dem Diktator treu gedient und eigene Schuld auf sich geladen. So bestand die Bewältigung der Vergangenheit in der Aufnahme von zwei neuen Schlagworten in den Parteijargon: Der Stalinismus war eine Zeit des "Personenkults" und in ihr war es zu "Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit" gekommen. Das war alles, was in den folgenden 30 Jahren gesagt werden durfte.
Heute wird in der Sowjetunion offen gesagt, dass die Verletzung der "Gesetzlichkeit" 50 Millionen Tote zur Folge hatte. Allein dieser Anfang einer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ist eine große Veränderung.
Wer vor 40 Jahren auch nur andeutungsweise die Allweisheit der Partei bezweifelte, wurde umgebracht. Heute wagen einige Dissidenten den Versuch, eine Opposition zu bilden. Sie brauchen nicht um ihr Leben zu fürchten, sie werden "nur noch" eingesperrt - im jüngsten Fall für sieben Tage!
In der Sowjetunion gibt es unzählige Beispiele dafür, dass sich der Kommunismus wandelt - nicht in seinen Zielen, aber in seinen Methoden. Den Herrschern der deutschen Niederlassung Moskaus in Ost - Berlin bereiten die Änderungen der sowjetischen Methoden Entsetzen. Plötzlich gilt nicht mehr die eherne Regel: "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!" - jetzt heißt es: "Wenn der Nachbar (= die Sowjetunion) seine Wohnung neu tapeziert, muss man das ja nicht gleich nachmachen".
Honecker und Genossen warten ab. Sie hoffen als Sieger dazustehen, wenn Gorbatschow gestürzt wird. Die DDR grenzt unmittelbar an den Westen. Der Drang der eigenen Bevölkerung nach der so nahen Freiheit macht ihr genug zu schaffen. Ein bisschen Freiheit "zu viel" und ein bisschen Angst zu wenig könnten zu nicht mehr beherrschbaren Forderungen führen. Das Regime kann sich nun einmal durch nichts außer durch Gewalt am Leben halten.
Und dennoch: Auch in der DDR sind heute Dinge möglich, die zu Ulbrichts Zeit mit langen Zuchthausstrafen geahndet worden wären. Wer in den sechziger Jahren beim Hören oder Sehen von West-Sendern ertappt wurde, hatte seine Zukunft verspielt. Heute hört und sieht man den Westen, und man spricht öffentlich darüber. In den fünfziger Jahren wurde kaum ein politischer Häftling früher als nach fünf Haftjahren entlassen. Heute "sitzen" die meisten weniger als ein Jahr. Das alles sind nur wenige Beispiele - jeder kennt viele andere. Aber es gibt zwei Dinge, die sich nicht ändern werden:
1. Der Sowjetkommunismus baut nach wie vor auf die Hoffnung, dass ihm eines Tages die ganze Welt folgen wird.
2. Kommunismus und Freiheit sind und bleiben absolut unvereinbar. In keinem Land der Welt könnte ein System der Kollektivwirtschaft länger als kurze Zeit die Zustimmung einer Mehrheit erlangen. Die volle Anerkennung der Menschenrechte - und das hieße auch Demokratie - wäre der Anfang vom schnellen Ende jeder gegen die Mehrheit gerichteten Politik.
Wer das übersieht, ist ein Träumer. Dass es so viele Träumer gibt, ist die große Gefahr für unsere Freiheit.
- Sigurd Binski, Heini Fritsche, Horst Hennig und Alfred Segeth (v.l.n.r.), zum 75. Geburtstag von Horst Hennig am 28. Mai 1991 in Köln. Vier Überlebende aus dem Schacht 29, Lager 10 in Workuta, die zu über 100 Jahren Zwangsarbeit verurteilt waren. Heini Fritsche lebt heute in Bonn, seine drei Kameraden sind mittlerweile verstorben.
In Freiheit in Verantwortung. Sigurd Binskis Beiträge zur Zeitgeschichte haben Gerald Wiemers und Horst Hennig ihrem Weggefährten ein Denkmal gesetzt.
Sigurd Binski (1921-1993), promovierter Psychologe, hat fast vier Jahre im GULag, in Workuta, nördlich des Polarkreises, in eisiger Kälte bei schwerster körperlicher Arbeit zugebracht. Darüber hat er vielfach geschrieben, auch über den Streik vom 1. August 1953, den die Sowjets blutig mit 64 Toten zusammenschießen ließen. Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus, den er gut kannte, hat ihn lebenslang beschäftigt. Sein Fazit: der Sozialismus ist heute nicht mehr vertretbar. Er ist durch den Nationalsozialismus und den real existierenden Sozialismus vollständig diskreditiert. Zukünftige (Heils-)Versprechungen haben sich nicht erfüllt. Chruschtschow hatte für die 1990er Jahre weltweit den Sieg des Kommunismus vorausgesagt. Tatsächlich ist der Kommunismus zusammengebrochen wie ein Kartenhaus. Die sogenannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten – abgeleitet von den naturwissenschaftlichen Gesetzen – erwiesen sich als untauglich.
Darüber hinaus hat Binski die Außen- und Innenpolitik der DDR analysiert und offengelegt. Die Bundesrepublik mit ihren relativ hohen Arbeitslosenzahlen hat er aber ebenso gegeißelt, wie über Jahrzehnte die unterschiedliche finanzielle Behandlung von Holocaust- und GULag-Opfern. Den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers hat er vorausgesagt, wie nur wenige. Zu den wenigen gehörte auch der frühere ZDF-Kommentator Gerhard Löwenthal.
Freiheit in Verantwortung. Sigurd Binskis Beiträge zur Zeitgeschichte.
Herausgeber: Gerald Wiemers und Horst Hennig
ISBN: 978-3-96023-323-7
Erscheinungsdatum: April 2020
Umfang: 368 Seiten
Preis: 34,00 €
https://www.univerlag-leipzig.de/catalog/bookstore/article/2002-Freiheit_in_Verantwortung