Aktuelles
Eintrag vom 02.12.2023 GÜNTER FROHRIEP
Wie ein lebenslanges Suchen nach Günter Frohriep doch noch ein Ende findet.
Von Stefan Krikowski
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
Als Wilhelm Frohriep diese Nachricht am 25. Oktober 2023 telefonisch von Frau Dr. Richter von der Bürgerberatung beim Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur übermittelt bekam, fiel eine zentnerschwere Last von seinen Schultern. Für ihn und seine Schwester Herta war eine Jahrzehnte andauernde Ungewissheit nach 76 Jahren beendet. Zwei in Zivil gekleidete Männer mit roten Armbinden hatten Günter Frohriep „abgeholt“. Herta erinnerte sich noch, wie sie ihrem fünf Jahre älteren Bruder eine Packung Zigaretten in die Hand drückte, die sie in allerletzter Minute von ihrem wenig Ersparten gekauft hatte, bevor er spurlos verschwand.
- Günter Frohriep, ca. 1945
1936 war die Familie Frohriep mit ihren drei Kindern von Schwerin nach Rostock in die Robert-Schumann-Straße gezogen. Die nahe gelegene Kaserne bezog nach Kriegsende die Rote Armee.
Günter Frohriep begann 1943 bei der Handelsmarine als Schiffsjunge. In seinem Tagebuch schrieb er „24. Mai 1943. Endlich habe ich es geschafft. Mein Wunsch und Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich habe die Schule hinter mir und beginne mein Leben. Das Leben eines Seemanns.“ Die Lehrlingszeit endete am 19. Mai 1945. Nach Kriegsende war er kurz Arbeiter beim Reichsausbesserungswerk RAB in Wittenberge als Heizer, danach Arbeiter bei der "Derutra", der Deutsch-Russischen Transport-Aktiengesellschaft.
Aus Gutmütigkeit half er einer Familie, deren Fotoapparat gegen Lebensmittel einzutauschen. Nie hatte er die Absicht, Spionage zu treiben. Günter Frohriep wurde jedoch gesehen und denunziert, woraufhin eine Kontrolle vor Ort erfolgte und Günter Frohriep im Frühjahr 1947 verhaftet und auf das sowjetische Kommissariat verbracht wurde. Die Mutter wurde aufgefordert, einen Wintermantel für ihren Sohn Günter im Schweriner Gefängnis am Demmlerplatz abzugeben. An die kalte und abweisende Haltung der sowjetischen Soldaten erinnert sich der damals siebenjährige Bruder Wilhelm noch gut. Seine Mutter hatte ihn zum Gefängnis mitgenommen, eine Besuchserlaubnis für Günter erhielten sie natürlich nicht.
Die Not in der Bevölkerung war nach Kriegsende groß. Mutter Frohriep musste nun alleine für ihre drei minderjährigen Kinder sorgen. Günters Zimmer war mittlerweile von einem sowjetischen Soldaten namens Viktor beschlagnahmt worden. Die Rest-Familie kam gut mit ihm klar. Viktor war höflich und hatte der Mutter eine Arbeitsstelle in der Kaserne besorgt, so dass sie und ihre Kinder versorgt waren. Durch seine Vermittlung wusch Mutter Frohriep zudem Uniformen der sowjetischen Soldaten und Offiziere. Damit diese zum nächsten Tag wieder trockneten, bekam sie ausreichend Kohle zum Heizen. Nur Viktors Saufkumpanen bereiteten Ärger. Im Suff zerdepperten sie schon mal Glasfenster oder Möbelstücke.
Später arbeitete Mutter Frohriep als Schreibkraft auf der Neptunwerft. Nachdem auch Wilhelm Frohriep geheiratet hatte, reiste sie im April 1961 nach Hamburg. In Hamburg war sie geboren und hier lebten auch ihre Geschwister. Beim Abschied am Bahnhof wussten ihre Kinder schon, dass sie nicht zurückkommen würde. Erst Ende der 1960er-Jahre traute sie sich erstmals wieder in die DDR zu ihren Kindern. Diese durften ihre Mutter dann aber auch erst ohne ihre Ehepartner zu ihrem 70. Geburtstag 1979 in Hamburg besuchen. Mutter Frohriep verstarb im Jahr 2009 fast 100-jährig.
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
Diese Information lag all die Jahre im Archiv des DRK-Suchdienstes und wartete darauf, gefunden zu werden. Alle Behördenanfragen von Wilhelm Frohriep nach seinem Bruder Günter waren bislang vergeblich. Er war seit 1947 spurlos verschwunden, obwohl zunächst Mutter Frohriep und dann vor allem sein Bruder Wilhelm nach Günter Frohriep suchten. Ab dem Jahr 2014, als in Schwerin die GULag Ausstellung im Marstall gezeigt wurde, suchten die Angehörigen verstärkt nach Günter Frohriep. Doch dauerte es noch bis zum Jahr 2023, bis die Nachricht vom Tod Günter Frohrieps zu Wilhelm und seiner Schwester Herta Grannemann, geb. Frohriep, gelangte.
Im Stacheldraht Nr. 7/2023 war ein Foto vom GULag-Zeitzeugen Mike Müller-Hellwig, der auf seinen Schacht 40 in Workuta zeigt, abgebildet. Die Bildunterschrift erklärt die Geste: "Süffisant lächelnd erzählt er, wie er drüben zwei Friedhöfe kenne, auf denen er hätte liegen können bzw. sollen. Denn, wer nach Workuta kam, der kam nicht nach Deutschland zurück. Hierhin kam man, um für immer zu bleiben." Daneben stehen die Kontaktdaten des Sprechers der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion .
Dieses Foto mit dem Hinweis auf zwei Friedhöfe in Workuta ließen Wilhelm Frohriep nicht mehr los. Überhaupt las er alles über Workuta. Innerlich aufgewühlt nahm er umgehend Kontakt zu mir als Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta auf. Helfen konnte ich ihm leider nicht direkt. In meinen Unterlagen tauchte der Name des Häftlings Günter Frohriep nirgendwo auf. So nahm ich Kontakt zum Leiter der Dokumentationsstelle (Dresden), Herrn Dr. Pampel und zum neuen Landesbeauftragten (Schwerin) Herrn Bley, auf. Kaum 14 Tage später, am 27. September 2023, konnte Herr Dr. Pampel folgendes berichten:
„Günter Frohriep, geb. 1928, wurde von der Sonderberatung beim MGB (OSO) am 07.05.1947 nach den Artikeln 121 (Sammlung und Weitergabe von Nachrichten) und 58-14 (Sabotage) StGB RSFSR zu zehn Jahren ‚Besserungsarbeitslager‘ verurteilt. Als Haftorte sind das Speziallager Torgau sowie ab dem 8. Dezember 1947 WorkutLag angegeben. Er starb am 12.09.1951 in Workuta. (Quellen: Datenbank DRK-Suchdienst München, Datenbank Hannah-Arendt-Institut).“
Das Schicksal Günter Frohrieps war geklärt und eine Jahrzehnte lange nagende Unsicherheit und vergebliche Suche fand ein zwar nicht glückliches aber doch ein Ende.
- Günter Frohrieps Tagebuch
Viele Fragen bleiben offen und werden wohl nie beantwortet werden. Beispielsweise die Frage, wer wann dem DRK-Suchdienst das Todesdatum von Günter Frohriep übermittelt hat. Waren es Spätheimkehrer gewesen? Oder hat ein Häftling in einer Postkarte an seine Lieben darüber berichtet? In welchem Lager starb Günter Frohriep? Vielleicht sind weitere Informationen auf seiner ‚Kartoschka‘ (Häftlingskarteikarte) festgehalten. Aber das kurze Zeitfenster, in dem Einsicht in die Akten in russischen Archiven beantragt werden konnte, ist bis auf weiteres geschlossen.
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
1947 war Günter Frohriep zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. 1951 hatte er bereits vier bittere Jahre im Gulag hinter sich gebracht, und er hatte erst seinen 23. Geburtstag begangen. Sechs weitere Jahre lagen noch vor ihm. Woran er gestorben ist, werden wir nie erfahren. War es ein Grubenunglück, die so häufig sich ereigneten? Hatte eine Lore ihn zu Tode gequetscht? Ging eine Sprengung schief oder stürzte ein Flöz ein? Hatte ein russischer Blatnoi ihn getötet?
Oder war es körperliche Schwäche, Ausgezehrtheit verbunden mit Mangelernährung (Hungerdystrophie)? Starb er an TBC oder einer schweren Lungenentzündung in der Krankenbaracke? Oder war er einfach an der Sehnsucht nach Zuhause und an Hoffnungslosigkeit gestorben? Fragen, die Angehörige martern, aber auf die sie wohl nie eine Antwort erhalten werden.
Und wo ist er begraben? Haben Kameraden ihn in die Tundra hinausgetragen? Hat die Wachmannschaft auch ihm einen Pickel in den Schädel und in die Brust gejagt, damit sichergestellt war, dass nicht ein Lebender aus dem Lager entwischt? Wie tief hatten sie das Grab gegraben im ewigen Eis von Workuta? Und hatte sein Grab ein Kreuz?
- Wilhelm Frohriep und Herta Grannemann, geb. Frohriep, November 2023, Rostock
Aber irgendjemand hat die Nachricht von seinem Tod in die Heimat gebracht. Und auch wenn es Jahrzehnte dauerte bis sie gefunden wurde, so ist es doch, als ob die Seele von Günter Frohriep ein wenig Ruhe gefunden hat, weil er zwar einsam aber dann doch nicht alleine gestorben ist.
Horst Schüler schließt die Widmung in seinem Buch Workuta so: "Geschrieben vor allem für meine toten Freunde."
Wir werden Günter Frohriep ein ehrendes Andenken bewahren.
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Eintrag vom 25.11.2023 VERRAT ÜBER 4.500 SEITEN
34 Jahre nach dem Fall der Mauer hat am 5. November die evangelische Kirche sich zu ihrem Versagen im Umgang mit dem einzigen hauptamtlichen DDR-Gefängnisseelsorger bekannt.
Ein Artikel von Helmut Matthies
VERRAT ÜBER 4.500 SEITEN
34 Jahre nach dem Fall der Mauer hat am 5. November die evangelische Kirche sich zu ihrem Versagen im Umgang mit dem einzigen hauptamtlichen DDR-Gefängnisseelsorger bekannt. Erst sieben Jahre danach, 2013, bestätigte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), dass Pfarrer Eckart Giebeler für die Stasi gearbeitet habe. Es dauerte weitere neun Jahre, bis sich der Berliner Bischof Christian Stäblein erfreulicherweise der Sache annahm. Vor der Landessynode erklärte er 2022: „Giebeler hat das Vertrauen, das ihm die Gefangenen entgegengebracht haben, unzählige Male missbraucht.“ Stäblein und andere Kirchenleitungsmitglieder trafen sich auch mit ehemaligen politischen Häftlingen, die den Geistlichen erlebt hatten. Die Leidensgenossen baten um einen Gottesdienst und ein Wort der Kirche, in dem sie auch ihr Versagen bekennen müsse. Dies geschah am 5. November um 18 Uhr in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz.
Der Artikel von Helmut Matthies is erschienen in der Ausgabe 44.2023 der Zeitschrift Idea und ist als PDF-Datei über folgenden Link öffnen:
VERRAT ÜBER 4.500 SEITEN
Predigt von Bischof Christian Stäblein im Gottesdienst am 5.11.2023 mit Erklärung der Kirchenleitung zur Tätigkeit Eckart Giebelers:
https://www.ekbo.de/themen/detail/nachricht/gottesdienst-mit-oeffentlicher-erklaerung-der-kirchenleitung-zur-taetigkeit-von-eckart-giebeler.html.
Erklärung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz zu Eckart Giebeler (1925-2006):
https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/0._Startseite/00._Bildb%C3%BChne/Erkl%C3%A4rung_der_Kirchenleitung_der_EKBO.pdf.
Zuvor erschien im Stacheldraht 4/2023 S.12 ein Artikel unter der Überschrift "Betroffene wünschen sich ein öffentliches Wort“.
Buchempfehlung:
Marianne Subklew-Jeutner, Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi. Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Band 12, Metropol Verlag 2019. 456 Seiten.
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Eintrag vom 20.09.2023 LETZTE ADRESSE
Am 19. September 2023 wurde die neue Gedenktafel für Wolfgang Waterstraat angebracht, nachdem die erste entwendet worden war.
Am 18. August 2023 wurde in einem würdevollen Rahmen die Gedenktafel „Letzte Adresse“ für Wolfgang Waterstraat an seiner letzten Wohnadresse in der Karl-Marx-Straße 196, Berlin-Neukölln angebracht. Zu dieser Gedenkveranstaltung war die einzige Tochter, Frau Görge-Waterstraat mit ihrem Ehemann und den beiden Söhnen aus Frankfurt/M. angereist. Sie hielt eine bewegende Rede über das Leben ihres Vaters, die sie endete mit den Worten:
"Bereits 1990 wurde meine Mutter in der Gauck-Behörde gefragt, warum sie nach so vielen Jahren die Sache nicht lieber ruhen lassen will.
Warum finden Angehörige keine Ruhe?
Weil ein lieber Mensch verschwand und mit ihm seine Biografie, sein Name, die ganze Existenz. Eine große Lücke, ein Schmerz, der nie vergeht. Man will jede fehlende Sekunde nacherleben und irgendetwas noch für ihn tun können. Vor allem möchte man, dass er nicht vergessen wird.
Irgendwo muss sein Name stehen. Auf einem Grabstein, einem Straßenschild oder an einer Hauswand."
Noch in derselben Nacht wurde die Gedenktafel und die Gedenkkränze entwendet! Bei der Neuköllner Polizei wurde umgehend eine Strafanzeige gestellt.
Gestern am 19. September 2023 haben Anke Giesen, Mario Bandi und Nikolai Ivanov (MEMORIAL-Deutschland) eine neue Gedenktafel für Wolfgang Waterstraat - diesmal mit verstärkten Dübeln und Spezialkleber - angebracht. Die Polizei (Abschnitt 54 Sonnenallee / Ecke Erk-Straße) wurde über die erneute Anbringung informiert.
...schließenEintrag vom 22.08.2023 LETZTE ADRESSE
Am Freitag, den 18. August 2023 wurde in einem würdevollen Rahmen die Gedenktafel "Letzte Adresse" in Erinnerung an den Arzt und Mikrobiologen Wolfgang Waterstraat an seiner letzten Wohnadresse in der Karl-Marx-Straße 196, Berlin-Neukölln angebracht. Sie ist in Berlin die zweite und bundesweit die siebte Gedenktafel "Letzte Adresse". Waterstraats Tochter war mit ihrer Familie aus Frankfurt/Main angereist. Ca. 50 Personen waren der Einladung von Memorial Deutschland gefolgt.
- Wolfgang Waterstraat
Quelle: "Erschossen in Moskau …" Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953, Hg. A. Roginskij, F. Drauschke, A. Kaminsky
Das DDR- und Sowjet-Staatverbrechen – Verhaftung, Verschleppung, Tötung – aus dem Jahr 1951/1952 war ungemein gegenwärtig, selbst in dieser orientalisch anmutenden Neuköllner Umgebung. Die Vergangenheit ist nicht vergessen, sie ist nicht vorbei.
- Ute Görge-Waterstraat
Verehrte Anwesende,
ich möchte mich auch im Namen meiner Familie sehr für Ihr Kommen und Ihre Anteilnahme bedanken.
Ganz außerordentlich danke ich der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL Deutschland für ihre Versöhnungsarbeit. Sie gibt unserem ermordeten Angehörigen wieder einen Namen und macht das Unrecht, das ihm geschehen ist, öffentlich. Damit ist er nicht mehr anonym, wie auf dem deutschen Gedenkstein am Massengrab Nr.3 des Donskoje Friedhofs in Moskau. Das ist für uns Angehörige immens wichtig.
Wir stehen hier vor der letzten Wohnstätte von Wolfgang Waterstraat, meinem Vater. Es sollte ein heißer Sommertag im August 1951 werden, an dem mein Vater zum letzten Mal, leicht bekleidet mit Shorts und Polohemd, dieses Haus verließ. Mit raschen Schritten überquerte er die Karl-Marx-Str., blieb noch einmal stehen und winkte seiner kleinen Familie am Erkerfenster im 3. Stock zu, um dann eilig Richtung S-Bahnhof Neukölln zu laufen. Unsere Blicke folgten ihm zum allerletzten Mal, bis er nicht mehr zu sehen war.
Er hatte keine Bedenken, die S-Bahn über den Ostring zu nehmen. Im Zug widmete er sich sofort seiner als Dissertation geplanten Langzeitstudie. Er wollte sie noch einmal durchsehen, bevor sie in Druck geht.
Der letzte Tag, an dem er die Urlaubsvertretung für seinen Chef als Abteilungsleiter der Virus-Abteilung im RKI übernommen hatte, würde wieder sehr lang werden. Vielleicht noch eine Vorlesung? Mindestens fünf Patienten waren angemeldet. Sie sollten an diesem Tag vergeblich auf ihn warten.
Auf der S-Bahnstrecke zwischen Treptower Park und Ostkreuz stiegen zwei Ostpolizisten in Zivil in den Zug. Zehn Augenzeugen meldeten sich später, die beschrieben, wie ein großer, blonder Mann am Bahnhof Ostkreuz gefesselt und unter Pistolengewalt zum Aussteigen gezwungen wurde. Thermoskanne und Butterbrote drohten aus der geöffneten Aktentasche zu fallen… „Das wird sich alles finden!“, murmelte einer der Greifer und schon stiegen sie in ein wartendes Auto hinter dem Bahnhofsbereich. Ein Augenzeuge hatte gewagt, bis dahin die Verfolgung aufzunehmen.
Hinter einem Namen steht auch ein Mensch. Dieser Mensch, der hier lebte, war glücklich über seine kleine Familie und zufrieden mit seiner Arbeit. Meine Eltern hatten viele Freunde, besonders aus dem Osten, und immer war das Haus für sie offen. Ab und zu besuchte uns auch mal ein Meerschweinchen. Es fand den Tierstall des RKI aber wohl schöner, sonst wäre es nicht ständig unter unseren Schrank gekrochen.
Mein Vater war ein positiver, humorvoller Mensch. In seiner Freizeit malte er gerne. So ein Ölbild hatte er an einem Tag fertiggestellt. Als Leinwand diente Presspappe. Mit Illustrationen seiner Feldpostbriefe gewann er im Krieg das Herz meiner Mutter.
Bei der Deutschen Bibliothek findet man unter Waterstraat ein Kinderbuch, das er mit Zeichnungen versehen, als Student in Königsberg herausgegeben hatte. Seine sechs wissenschaftlichen Veröffentlichungen sucht man da leider vergeblich. Vor Jahren fand ich dort noch etwas. Inzwischen auch verschwunden? Neben seinen Forschungen betätigte sich mein Vater auch für den Senat von Berlin als Arzt mit einer humanitären Arbeit , die ihm 1951 gänzlich von seinem Chef übertragen worden war.
Er kümmerte sich um die auf die einzelnen Patienten zugeschnittene Vergabe von Streptomycin, welche das RKI übernommen hatte. Hierin besaß er spezielles Wissen, auch wie man die dazu nötigen Tests stabil hielt. Es gab viele offizielle Kontakte und wissenschaftlichen Austausch mit Ostwissenschaftlern, die sein Fachwissen sehr schätzten. Einer dieser Herren erzählte mir, es gäbe sogar einen Test, der seinen Namen trägt.
Streptomycin war damals die letzte Rettung für Knochen-TBC- Kranke und sehr teuer. Die meisten Patienten, die mein Vater betreute, reisten aus dem Osten Deutschlands an, obwohl es ihnen schon per DDR-Gesetz verboten war. Die Geldmittel für deren Streptomycin stammte aus Spenden. Die Gelder kamen z.B. von der amerikanischen Besatzungsmacht, der UN, dem DRK oder auch von Sammelaktionen der Westberliner Bevölkerung. Mein Vater arbeitete Hand in Hand mit kirchlichen Organisationen wie z.B. Innerer Mission und evangelischem Hilfswerk.
Die vielen verzweifelten Bettelbriefe der schwer TBC-Kranken, von den Kirchen an das RKI weitergeleitet, waren kaum zu ertragen. Immer wieder mussten Bittsteller enttäuscht werden. Streptomycin war in der DDR sehr reglementiert und dort gelang die Produktion einfach nicht. Mein Vater suchte eine Möglichkeit, mehr Geld aufzutreiben und für Spenden zu werben. Ein Kollege aus dem RKI kannte Journalisten und führte meinen Vater daher in eine Gruppierung mit vielen Journalisten und Kommunalpolitikern ein. Hier wollte mein Vater Redakteure finden, die Spendenaufrufe initiieren können.
Es erschienen dann auch Artikel, in denen er und das RKI als Anlaufstelle genannt wurden, und im RIAS wurde mehrfach darüber gesprochen. Einige Redakteure waren besonders aktiv, und so entstand eine Splittergruppe, die sich für ein vereintes Europa einsetzen wollte. Eine tolle Idee, wie mein Vater fand. Obwohl er sich im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedern politisch nicht besonders betätigt hatte, nahm er die Wahl zum ersten Vorsitzenden dieser Aktivisten an.
Was mein Vater nicht ahnte: Diese politischen Gruppierungen wurden, von verschiedenen Besatzungsmächten und dem damaligen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen großzügig finanziert, meist von Agenten gesteuert. Sie waren Feindobjekte der sowjetischen Besatzungsmacht und auch entsprechend unterwandert.
Für ein System, dass sich vor der eigenen Bevölkerung immer als das bessere ausgibt, ist es peinlich, nicht genug Mittel gegen eine Volksseuche zu haben.
Wie aber konnte man diese Spenden, von der stets das DDR-Innenministerium und die sowjetische Besatzungsmacht ihre Anteile bekamen, unterbinden, ohne eigene Bürger sterben zu lassen? Keine Rücksicht: Es wurden auf Kosten der Bevölkerung auch Großspenden abgelehnt.
Die Angst vor Spionage herrschte vor. Die DDR sah in der "Liebesgabentätigkeit" der kirchlichen Organisationen eine Übereinstimmung mit der Tätigkeit von Agentenorganisationen.
Das Netz um meinen Vater hatte sich schon lange verdichtet, ohne dass er etwas ahnte. Offensichtlich wollte man seiner habhaft werden. Zuerst bekam er bereits ab Ende 1950 nacheinander zwei Arbeitsangebote von Pharmaunternehmen im Osten. Als er vor der Verschleppung seinen Chef kommissarisch vertrat, steigerten sich gewisse Aktivitäten.
Im Gesundheitsministerium Ost, wollte man ihn plötzlich persönlich sprechen, dazu hatte er aber keine Zeit. Als mein Vater dann verschwunden war, dachte man im RKI, er wäre womöglich dort im Ministerium festgehalten worden.
Freundschaftsbesuche eines ehemaligen Studienkameraden, der in Thüringen lebte, nahmen kurz vor dem Verschwinden meines Vaters zu, eine Probefahrt mit dessen neuem Auto stand zur Debatte. Die wäre wohl stracks in Ostberlin geendet, nahm die Familie später an.
Aber meine Eltern waren ja nicht da. Das letzte Wochenende, das sie gemeinsam verbringen sollten, verlebten sie in der Waldbühne, wo zwei Wohltätigkeitsveranstaltungen für den Spendenfont liefen. Kurz vor seinem Verschwinden äußerte mein Vater, er hätte den Eindruck, der Ost-Freund sei auf ihn angesetzt. Er hatte aber zu spät Verdacht geschöpft.
Und nun komme ich zum Corpus Delicti, von dem mein Vater als junger Mensch damals nie gedacht hat, dass es bis heute benutzt werden könnte, um seinen Ruf zu schädigen. Sogar durch persönlich bekannte anerkannte Historiker.
In Berlin Zehlendorf auf der Potsdamer Chaussee stand ein Panzer der Roten Armee als Erinnerung an die Einnahme Berlins, auf den sich die Wut der West-Berliner Bürger fast täglich konzentrierte. Parolen wie Freiheit oder Weg mit dem Panzer zierten ihn, oder er wurde einfach mit Farbe oder Benzin übergossen. Mein Vater nahm an einer dieser Aktionen teil. Ideenlieferant soll er nicht gewesen sein, das liegt im Dunkeln. Für die sowjetische Besatzungsmacht war das ein Diversionsakt. Ein fotodokumentierter Beweis, den man gegen meinen Vater verwenden konnte, um die eigentlichen politischen Gründe, z.B. eine imageschädigende Vergabe von Antibiotika, zu unterbinden. Mein Vater ließ sich zu dieser Aktion verleiten, und nur er wurde als einziger der Teilnehmer festgenommen, obwohl alle Beteiligten entweder im Osten wohnten oder regelmäßig dorthin fuhren. Ich konnte die meisten noch sprechen.
Mein Vater setzte sich mit dieser Aktion für ein entmilitarisiertes vereintes Europa ohne Grenzen ein. Was heute einige am liebsten wieder rückgängig machen wollen. Freiheit und Demokratie wurden im West-Berlin der 1950er Jahre als hohes Gut betrachtet. Gerade, weil ständig von außen bedroht. Wir sollten uns heute sehr überlegen, andere Alternativen zu suchen.
Ich könnte gewiss noch stundenlang reden, über die bösen Gerüchte, die meine Familie belasteten, über einen Lockanruf des MfS und zwei Entführungsversuche meine Mutter betreffend zwei Monate später.
Uns belasteten die schweren gesundheitlichen Probleme meiner Mutter, ihr Existenzkampf und die Ängste, durch die Zone zu fahren, Todesnachrichten mit unterschiedlichem Datum und vor allem die erschütternde Nachricht, dass mein Vater erschossen wurde.
Wir konnten es kaum fassen. Ein junges, aufstrebendes Leben endete, wie das eines Schwerverbrechers? Für uns alle ein neuer Schock, auch dass er offensichtlich gefoltert wurde und Heiligabend 1951 zweimal und am 1. Weihnachtsfeiertag ebenfalls verhört wurde, obwohl die Anklage bereits feststand.
Mein Vater erhielt 1993 die russische Rehabilitierung wegen "grundloser" Verhaftung. Ein sinnloser Tod.
Gerechtigkeit nach bundesdeutschem Recht für jenen Verschleppungsakt am 28. August 1951 fanden wir nicht. Berliner Landgericht, sowie Kammergericht wiesen alle Anträge ab.
Wir mussten ertragen, dass die mit dem Fall befassten Richter und Staatsanwälte, nicht sicher waren, ob das Urteil des Sowjetischen Militärtribunals wegen Spionage gegen meinen Vater überhaupt "rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprach, oder rechtswidrig war, weil er einer antikommunistischen Organisation angehört hatte…" Das Kammergericht hat schließlich unsere Beschwerde über die Nichtzulassung zur deutschen Rehabilitierung verworfen. Genau am 44. Jahrestag der Hinrichtung.
Als eine der ersten Forschenden in der Gauck-Behörde und dort in zäher, unglaublich schwieriger Arbeit fand ich endlich ein Verhörprotokoll meines Vaters und einen Agent Provocateur, der nicht nur wegen seiner kranken Frau im RKI war, sondern meinen Vater offensichtlich zu politischen Äußerungen verleiten sollte.
Wichtige Fragen konnten bis heute von diesem Archiv nicht beantwortet werden. Ein Netz von politischen Verstrickungen und gelenkten externen Agententätigkeiten – auch von sogenannten Freunden – wurde durch meine Recherche sichtbar.
Mein Vater ist nicht das einzige Opfer, dass einen solchen gewaltsamen Tod in einem Keller der Butyrka in Moskau fand. Nach neuesten Forschungen sind mehr als 3481 SMT-Todesurteile in den Jahren 1944-1955 an deutschen Zivilisten vollstreckt worden.
Bereits 1990 wurde meine Mutter in der Gauck-Behörde gefragt, warum sie nach so vielen Jahren die Sache nicht lieber ruhen lassen will.
Warum finden Angehörige keine Ruhe?
Weil ein lieber Mensch verschwand und mit ihm seine Biografie, sein Name, die ganze Existenz. Eine große Lücke, ein Schmerz, der nie vergeht. Man will jede fehlende Sekunde nacherleben und irgendetwas noch für ihn tun können. Vor allem möchte man, dass er nicht vergessen wird.
Irgendwo muss sein Name stehen. Auf einem Grabstein, einem Straßenschild oder an einer Hauswand.
Und hier wird er gleich stehen und wir sind froh darüber.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Nachtrag
In Russland werden die Gedenktafeln mittlerweile wieder vom FSB-Regime und deren Schergen entwendet. Ein Erinnern an die stalinistischen Verbrechen ist im heutigen Russland nicht erwünscht. Aber wer von uns hätte es für möglich gehalten, dass auch in Deutschland eine Gedenktafel "Letzte Adresse" gestohlen werden würde. Aber das ist genau geschehen:
Die Gedenktafel für Wolfgang Waterstraat ist gestohlen worden!
Diesen Diebstahl, diese Schändung wurde keine zwölf Stunden nach der Anbringung festgestellt. Neben der Entfernung der Gedenktafel waren auch die Gedenkkränze der Bundesstiftung und von MEMORIAL verschwunden. Nur drei weiße Rosen waren acht- und lieblos hinter das Abflussrohr gedrückt worden.
Der Schmerz ist groß, ebenso die Ohnmacht und Wut. Fassungslos wurde bei der Polizei, Abschnitt A 54 – Sonnenallee / Ecke Erkstr., eine Strafanzeige wegen Diebstahls und Schändung der Totenehre gestellt.
In der schriftlichen Bestätigung der Strafanzeige vom 19.8.23 wurde vermerkt: Delikt (kriminologische Bezeichnung): EFD – einfacher Diebstahl – einfach deshalb, weil man das zu entwendende Objekt leicht wieder abschrauben kann, also nicht besonders gesichert ist, oder der Täter musste nicht eine Scheibe einschlagen, um das gewünschte Objekt zu entfernen.
Dies zur Erklärung der nüchtern-sachlichen Polizei-Sprache.
Der Polizist, der die Strafanzeige aufnahm, hat auf meine Frage, ob denn Aussicht bestehen würde, den oder die Täter zu stellen, nur ein müdes Lächeln übrig. „In der Regel muss ich Ihnen Ihre Frage negativ beantworten“. Manchmal gäbe es Zeugen, die sich melden, aber…
Diese entsetzliche Schändung mussten wir Frau Görke-Waterstraat und ihrer Familie übermitteln.
Aber Memorial Deutschland um das Team von Anke Giesen, Mario Bandi und Nikolai Ivanov haben sofort beschlossen, dass umgehend eine neue Gedenktafel für Wolfgang Waterstraat angefertigt und diesmal besser gesichert angebracht wird, wahrscheinlich noch Ende September 2023.
Stefan Krikowski
Fotoimpressionen
...schließenEintrag vom 12.08.2023 LOTHAR SCHOLZ IST TOT
Am 4. August 2023 verstarb Lothar Scholz in Alter von 94 Jahren in Berlin.
Ein Nachruf von Edda Ahrberg
Lothar Scholz (1928 bis 2023)
- Lothar Scholz, Jahrestagung der Lagergemeinschaft 2012
Als 18-Jähriger geriet Lothar Scholz 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde aber bereits nach ein paar Monaten in seinen Heimatort Fürstenwalde/Spree entlassen, wo er 1946 vom sowjetischen Geheimdienst festgenommen wurde. Unter Gewaltanwendung verpflichtete er sich zunächst zur Zusammenarbeit, floh aber kurz darauf in die Westzonen. Da sprachen ihn Angehörige eines westlichen Geheimdienstes an und wollten Auskünfte über die Verhältnisse in Fürstenwalde. Dorthin zurückgekehrt, wurde er im Sommer 1947 erneut von den Sowjets verhaftet. Lothar Scholz erhielt an seinem 19. Geburtstag im Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes Eberswalde sein per Fernurteil (OSSO) in Moskau verhängtes Urteil zu 15 Jahren Besserungsarbeitslager. Der Vorwurf lautete: Spionage. Anschließend wurde er mitten im Winter in den hohen Norden der Sowjetunion transportiert und erlebte, wie viele der Mithäftlinge bereits während des Eisenbahntransportes starben. Er kam bis in das Lager Mulda hinter dem Polarkreis in der Nähe von Workuta und musste dort Eisenbahngleise verlegen. Hier war er der einzige Deutsche und gezwungen, sich in dem von Gewalt dominierten Haftsystem durchzuschlagen. Von 1950 bis 1955 hatte er dann im weit südlicher gelegenen Lagerkomplex Potma u. a. als Holzfäller im Wald, an der Nähmaschine für die Herstellung von Uniformen und als Pfleger auf einer TBC-Station zu arbeiten. Im Oktober 1955 konnte er nach Deutschland zurückkehren.
1996 hieß es in dem Gutachten zu seiner Rehabilitierung durch die russische Generalstaatsanwaltschaft: "Scholz wurde beschuldigt, als Geheimagent der SWA-Abteilung der sowjetischen Militäradministration in Fürstenwalde den Auftrag der sowjetischen Aufklärung zur Enttarnung feindlicher Elemente nicht erfüllt zu haben."
Seine beiden Bücher über diese Zeit verlegte er selbst: "Der verratene Idealismus. Ein Junge im Banne des Nationalsozialismus" und "Im Namen von Marx-Engels-Lenin-Stalin. Jugend in sowjetischen Straflagern vom 2. Mai 1947 bis 15. Oktober 1955".
Hass auf die Russen verspürte er nicht, sondern bemühte sich stets um Verständnis. Im Winter 2004 reiste er mit Horst Schüler und Anita Wille, begleitet von einem NDR-Fernsehteam, nach Workuta. Im Sommer des gleichen Jahres durften mein Mann und ich ihn dorthin begleiten. Da es 2003 nicht geklappt hatte, mit einer größeren Delegation der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion der Opfer des am 1. August 1953 blutig niedergeschlagenen Streiks in Workuta zu gedenken, war es ihm wichtig, es ein Jahr später nachzuholen – obwohl er selbst nie als Häftling in Workuta war. Diese Tage sind mir unvergessen. Während der langen Bahnfahrt erzählte er von seiner Haft, in Workuta übergab er dem Museum seine Wattejacke und einen Holzkoffer. Gemeinsam nahmen wir an der Gedenkveranstaltung an den Gräbern der Streikopfer teil. Und in der hellen Nacht badeten wir in einem abgelegenen Teich mitten in der Tundra. Lothars Kommentar später in seinem Bericht: "In Ermangelung von Badesachen springen wir nackt in das erfrischende Wasser, spülen schwarze Gedanken weg." Der Bericht endet mit den Worten: "Ich habe die Freundschaft der Menschen spüren dürfen, die dort bleiben, in der Tundra, in der Trostlosigkeit."
Nicht nur mich ließ er oft an seinen Gedanken teilhaben, schickte Fotos mit mal mehr mal weniger witzigen Kommentaren und Kopien von Presseartikeln. Über viele Jahre hinweg hielt er auch den Kontakt zu Haftkameraden. Die letzte Nachricht von ihm erhielt ich 2021. Dort ließ er mir zwei Fotos zukommen. Das eine zeigt ihn mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, das andere mit Wladimir Putin (neben ihm) und Gerhard Schröder 2005 anlässlich des Gedenkens an das Kriegsende vor 60 Jahren in Moskau. Er war Mitglied der offiziellen deutschen Delegation und durfte in der Kanzlermaschine mitfliegen. Seine Worte auf der Rückseite des zweiten Fotos sprechen für sich: "Icke mit dem Strolch anno 2005".
Jetzt ist er am 4. August 2023 im Alter von 94 Jahren gestorben. Die Erinnerung an ihn und seinen besonderen Humor bleibt. Sie ist mit großer Dankbarkeit verbunden.
...schließenEintrag vom 01.08.2023 WORKUTA-GEDENKTAG
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 keimte in den Gefangenenlagern des GULag Hoffnung auf. In einigen Lagern wurde offen der Aufstand geprobt. In Workuta wurde der Streik heute vor 70 Jahren, am 1. August 1953 blutig niedergeschlagen.
Bei der Niederschlagung wurden 64 Gefangenen getötet, darunter waren auch zwei Deutsche, der Berliner Wolfgang Jeschke (*2.3.1932 in Berlin - +1.8.1953 in Workuta) und Hans-Gerd Kirsche (*21.11.1929 in Waldheim / Kreis Döbeln - +1.8.1953 in Workuta).
Zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 60. Jahrestages der Niederschlagung des Streiks reiste eine Delegation unter der Leitung von Anne Drescher und Edda Ahrberg nach Workuta. Edda Ahrberg verlas ein Grußwort von Heini Fritsche, der den Beschuss durch MWD-Soldaten nur knapp überlebte.
Die Lagergemeinschaft hat die Namen von 53 Getöteten in Erfahrung bringen können, davon 32 Ukrainer. Die Namensliste finden Sie im Anschluss an die Gedenkworte von Heini Fritsche.
Gedenkworte von Heini Fritsche zum 1. August 2013 in Workuta
Ihr, die Ihr hier in Tundra-Erde ruht, Russen, Ukrainer, Litauer, Letten, Esten, Polen und Deutsche, Euch gilt unser Gruß, von uns, den noch Lebenden aus jener Zeit, überbracht von den jüngeren Nachfahren, Wissenden und Gutwilligen, die unser gemeinsames Schicksal aus den Jahren der Unterdrückung und Verfolgung bewahren wollen.
Genau heute vor 60 Jahren löschten geist- wie gewissenlose Menschen, eiskalte Diener einer schlimmen Ideologie der Verachtung freiheitlichen Menschentums Euer Leben aus. Euer "Verbrechen" war der laute Ruf nach Recht und Gerechtigkeit, nach menschlicher Behandlung, für die wir in den letzten Julitagen des Jahres 1953 als einem weiteren Markstein des zum moralischen Untergang verurteilten Systems in Ost- und Mitteleuropa Schulter an Schulter zusammenstanden.
Der 1. August 1953 in Workuta, der Schacht 29, das dazugehörige Zwangsarbeitslager Nr.10 des GULAG-Systems hier ist so seit 60 Jahren zum Symbol geworden, zu einem Gedenktag in den Köpfen und Herzen der Überlebenden, ihrer Nachfahren, den Wissenden und Gutwilligen. Eure Namen sind aufgeschrieben und legen Zeugnis in der Geschichte ab. Sie sind uns nicht verloren, sie sind der Zeit nicht verloren - Gott kennt Euch ohnehin.
Freilich - der Schoß jenes verruchten Systems, das uns verdammte, marterte und quälte, ist fruchtbar noch in neuen Gesichtern, mit Harmlostuerei und Beschwörung längst von der Geschichte widerlegter Gedanken, Vergesslichkeit, Oberflächlichkeit und Denkunwillen sind die Wegbereiter. Wir, die Zeugen und Wissenden um die Verbrechensgeschichte jener Weltverbesserer, Eure Brüder, stehen noch, um zu mahnen.
Auch WORKUTA, ein Synonym wie AUSCHWITZ, darf nicht wieder geschehen!
Ruhet in Frieden, Kameraden!
Heini Fritsche, geb. 1929, 1951 verhaftet, 1952 vom SMT nach § 58-6/1, 58-10/2, 58-11 und 58-14 StGB RSFSR wegen des Vorwurfs der Spionage, antisowjetischer Propaganda und Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1952 bis 1955 Zwangsarbeit in Workuta (Schacht 29), überlebte am 1.8.1953 schwer verletzt, 1993 rehabilitiert.
Die Toten vom Lager 10/Schacht 29, erschossen am 1. August 1953
- ANDRUSSISCHIN, Dmitri Iwanowitsch, 28 Jahre, Ukrainer
- BARNATAWITSCHUS, Awgustinas, 41 Jahre, Litauer
- BATSCHINSKI, Josif Adolfowitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- BELJAWSKI, Wassili Iwanowitsch, 27 Jahre Weißrusse
- BOTSCHEWSKI, Jaroslaw Michailowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- DMITRIK, Stach Ignatowitsch , 48 Jahre, Ukrainer
- DOWBYSCH, Wladimir Grigorjewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- DUMA, Fjodor Stepanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- FESCHTSCHUK, Miroslaw Nikolajewitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- GAWTSCHAK, Anton Lukjanowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- GERTSCHISCHIN, Michail Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- GILEZKI, Wassili Iljitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- GOWDA, Jaroslaw Wassiljewitsch, 31 Jahre, Ukrainer
- GUK, Wassili Semjonowitsch, 38 Jahre, Ukrainer
- IGNATOWITSCH, Witold Antonowitsch, 24 Jahre, Pole
- JANOWITSCH, Juri Iwanowitsch, 37 Jahre, Ukrainer
- JESCHKE, Wolfgang, 21 Jahre, Deutscher
- KAJRIS, Kasis, 36 Jahre, Litauer
- KASANAS, Afanasius, 55 Jahre, Litauer
- KATAMAJ, Wladimir Wassiljewitsch, 24 Jahre, Ukrainer
- KILBAUSKAS, Atanas, 30 Jahre, Litauer
- KIRSCHE, Hans-Gerd, 24 Jahre, Deutscher
- KLASSEN, Juri Teodorowitsch, 37 Jahre, Este
- KOSTIW, Michail Wassiljewitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- KUKK, Karl Jochannessowitsch, 34 Jahre, Este
- LAJZONAS, Alfonassas, 25 Jahre, Litauer
- LEWKO, Iwan Petrowitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- LINNUK, Pjotr Jegorowitsch, 47 Jahre, Este
- LUKANJEZ, Wladimir Pawlowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- MARSCHALOK, Michail Petrowitsch, 43 Jahre, Ukrainer
- MARTINAWITSCHUS, Witolus, 24 Jahre, Litauer
- MENDRIKS, Janis Antonowitsch, 49 Jahre, Lette
- MIKOLISCHIN, Jemeljan Stepanowitsch, 27 Jahre, Ukrainer
- MITROGAN, Jaroslaw Nikolajewitsch, 22 Jahre, Ukrainer
- MILKAUSKAS, Wazlowas, 28 Jahre, Litauer
- OCHAKAS, Juri Juchanowitsch, 45 Jahre, Este
- OLCHOWITSCH, Wladimir Kondratjewitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- PANSCHTSCHENJUK, Jakow Wassiljewitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- PETERSONS, Elmars, 28 Jahre, Lette
- PETRUNIW, Josif Grigorjewitsch, 33 Jahre, Ukrainer
- POWROSNIK, Konstantin Saweljewitsch, 26 Jahre, Ukrainer
- PUKIS, Josas, 23 Jahre, Litauer
- SAKOWITSCH, Wladimir Aleksandrowitsch, 44 Jahre, Pole
- SCHKODIN, Stefan Iwanowitsch, 21 Jahre, Ukrainer
- SCHMID, Karl, 48 Jahre, Österreicher
- STRUZ, Wassili Ostafewitsch, 21 Jahre Ukrainer
- TSCHECHAWITSCHUS, Mikolas, 34 Jahre, Litauer
- TSCHEPEGI, Iwan Iwanowitsch, 35 Jahre, Ukrainer
- TSCHERJOMUCHA, Stepan Potapowitsch, 29 Jahre, Ukrainer
- TSCHERNEZKI, Bogdan Stanislawowitsch, 23 Jahre, Ukrainer
- TSCHUNIS, Semjon Gawrilowitsch, 46 Jahre, Ukrainer
- WELITSCHKO, Edwardas, 24 Jahre, Litauer
- WISOZKI, Igor Wladislawowitsch, 35 Jahre, Russe
- Hedeler, Wladislaw/Hennig, Horst (Hg.):
Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipzig (Universitätsverlag) 2007. - Wiemers, Gerald (Hg):
Der Aufstand. Zur Chronik des Generalstreiks 1953 in Workuta, Lager 10, Schacht 29. In Zusammenarbeit mit der "Lagergemeinschaft Workuta/GULag", Leipzig (Universitätsverlag) 2013.
Auswahlliteratur
Eintrag vom 17.06.2023 KARL-WILHELM-FRICKE-PREISVERLEIHUNG
Am 15. Juni 2023 wurde der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion den Karl-Wilhelm-Fricke-Preis überreicht. Mit der Verleihung soll die "jahrzehntelange herausragende Aufklärungsarbeit und den Einsatz für den Schutz der Demokratie der hier engagierten Männer und Frauen" gewürdigt werden, so die Jury. Die Laudatio hielt Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der ersten russischen Nichtregierungsorganisation: "Memorial". Die Dankesrede hielt der Sprecher der Lagergemeinschaft Stefan Krikowski.
Sehr geehrter Bundespräsident Herr Köhler, Sehr geehrte Frau Kaminsky, Sehr geehrte Frau Scherbakova, Sehr geehrte Frau Birthler, Sehr geehrter Herr Veigel, Sehr geehrter Herr Martin, und sehr geehrter Herr Eppelmann
Liebe Angehörige der Lagergemeinschaft Workuta, liebe Frau Jenkner und liebe Kinder der 2. und 3. Generation. Besonders freue ich mich, dass unter den Gästen die Zeitzeugen Peer Lange und Dietrich Schopen anwesend sind, die extra aus dem süddeutschen Raum zu dieser Preisverleihung angereist sind!
Sehr geehrte Damen und Herren, mit großem Dank nimmt die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion diesen wunderbaren und würdevollen Preis entgegen. Ich stehe hier stellvertretend für die vielen Frauen und Männer, die von sowjetischen Militärtribunalen in Unrechtsprozessen, ohne rechtlichen Beistand, mit unter Folter erpressten Geständnissen zu langjährigen Haftstrafen im GULag-Lagersystem verurteilt wurden. Nach ihrer Freilassung haben viele von ihnen dafür gekämpft, dass Haft, Deportation und Zwangsarbeit als Unrecht anerkannt werden und nicht in Vergessenheit geraten. Stellvertretend für sie nehmen wir heute diesen Preis entgegen. Sie haben diesen Preis verdient und sind die eigentlichen Preisträger!
Der Preis ist benannt nach Karl Wilhelm Fricke, dessen Lebenswerk entscheidend von der Gewalterfahrung geprägt ist, der er seitens des kommunistischen Regimes in der DDR ausgesetzt war. Zeitlebens hat er sich deshalb für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Aufarbeitung der kommunistischen Gewaltherrschaft eingesetzt. Die Lagergemeinschaft Workuta hatte – noch unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Horst Schüler - das große Glück, Karl Wilhelm Fricke auf mehreren Jahrestreffen erleben zu dürfen.
Ich selbst habe eine sehr frühe Erinnerung an Karl Wilhelm Fricke. Mein Vater, Johannes Krikowski, war im Dezember 1955 nach 4 Jahren Gulag-Haft in die FREIHEIT nach West-Berlin entlassen worden. Nach Studium, Berufsfindung und Familiengründung verließ er nach dem Mauerbau im August 1961 mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern West-Berlin und zog nach Düsseldorf. Ich nahm meinen Vater immer lesend wahr. Besonders die dissidentische DDR-Literatur ist mir in Erinnerung geblieben. Die Bücher von Jürgen Fuchs, Wolf Biermann und vor allem Reiner Kunze wurden von der ganzen Familie gelesen. 1979 erregte das Buch "Politik und Justiz in der DDR" von Karl Wilhelm Fricke viele Gemüter. Ich sehe meinen Vater heute noch vor mir, wie er dieses umfangreiche Werk intensiv studierte. Besonders das Kapitel über die Internierungslager Buchenwald, Sachsenhausen, Fünfeichen, Mühlberg und Ketschendorf beschäftigte ihn.
Wir rechneten die Todeszahlen dieser Internierungslager zusammen – eben nach 1945 – und waren schockiert. In der Schule berichtete ich Klassenkameraden und einem Geschichtslehrer von den hohen Todeszahlen in den NKWD-Internierungslagern in der DDR. Empört wurden meine Darstellungen zurückgewiesen. Das könne nicht sein, ich würde Unsinn reden. Buchenwald und Sachsenhausen zum Beispiel seien reine Nazilager gewesen und ich wolle anscheinend die Verbrechen der Nazis verklären und verharmlosen. Später ist mir von diesem Lehrer sogar einmal vorgehalten worden, ich sei ein platter Antikommunist. Eigentlich ein Kompliment, aber so war es ja nicht gemeint.
Erst später begriff ich, dass es viele Anti-Fa-Kräfte gab – und immer noch gibt, die die Opfer des Kommunismus allzu gerne dem rechten Lager oder gar den Nazis zurechnen. Dies widerfuhr auch Gisela Gneist, die sicherlich viele der hier Anwesenden kennen. Sie hatte viele Jahre als Jugendliche im Internierungslager Sachsenhausen verbracht und war 2007 in Hamburg verstorben. Etwa 14 Jahre nach ihrem Tod sollte eine Straße in Oranienburg nach ihr benannt werden. Das löste eine große Kampagne gegen sie aus. Sie wurde in die rechte Ecke gestellt und sogar in Nazi-Nähe gerückt. Eine führende Hauptstadtzeitung hat sich maßgeblich an dieser Rufmordkampagne beteiligt.
Ralph Giordano hat 1992 in seinem SPIEGEL-Artikel "Die trauerunfähige Linke" mit dieser ideologisch bedingten Blindheit abgerechnet. Er schrieb: "Ja, Auschwitz war das größte Menschenschlachthaus der Geschichte, ich bin ein Anhänger der historischen Singularität des staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus. Aber wie verkommen muß man sein, diese Einzigartigkeit anzuführen, um dahinter die Monstrosität von Workuta zu verstecken?"
Die "Monstrosität von Workuta" – sie muss immer wieder aufgedeckt, ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und aus dem Bereich des Nicht-Wissens und der Unkenntnis geholt werden. Genau dieses Ziel verfolgt die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion und bedient sich einer der schärfsten Waffen im Kampf gegen die unheilige Allianz aus Vergessen und Verschweigen: ERINNERUNG! Der sichtbarste Beweis, dass die Erinnerung an die Namen und Gesichter der Opfer, die unter Stalins menschenverachtendem GULag-System gelitten haben und von diesem zugrunde gerichtet worden sind, auch von Putin immens gefürchtet wird, ist die Zerschlagung von MEMORIAL im Dezember 2021. Irina Scherbakowa, unsere Vorrednerin und Laudatorin, hat dies in ihrem Redebeitrag eindrücklich dargelegt. Frau Scherbakowa, ich danke Ihnen sehr für Ihren Blick auf die Geschichte, der das notwendige Korrektiv der von Putin beanspruchten historischen Verklärung und Deutungshoheit ist.
Aber nicht nur die Zerschlagung von MEMORIAL zeigt, dass Putin auf einer Linie mit der Vernichtungspolitik Stalins steht: Erst unlängst, am 17. April 2023, ist Wladimir Kara-Mursa in Moskau zu 25 Jahren Straflager verurteilt worden. 25 Jahre! – nachdem schon zwei Giftmordanschläge auf ihn verübt wurden, ähnlich dem Schicksal von Alexei Nawalny – ein Todesurteil auf Raten.
25 Jahre haben die meisten unserer Väter und Mütter, die auf dem Workuta-Zeitzeugen-Portal mit ihren Biografien dokumentiert sind, ebenfalls erhalten. Heute jedoch erfährt die Welt rasend schnell von solchen Unrechtsurteilen – und ist entsetzt! Damals aber herrschte die Politik des Schweigens und Verschweigens.
Sie kennen sicherlich die folgende Passage aus George Orwells Roman "1984", die der Vernehmungsoffizier O’Brian an den Häftling Winston Smith richtet: "Die Nachwelt wird nie von Ihnen hören. Sie werden restlos aus dem Strom der Geschichte entfernt. Es wird nichts von Ihnen übrig bleiben, kein Name in einem Register, nicht die Spur einer Erinnerung. Sie werden sowohl in der Vergangenheit, wie für die Zukunft annulliert sein. Sie werden nie existiert haben."
Eine Strategie, die so einfach wie effektiv ist. Genau das hatte die Sowjetmacht auch in der SBZ und den Anfangsjahren der DDR vor. Nach der Festnahme und Übergabe an den sowjetischen Geheimdienst und durch die Verurteilungen zu jahrzehntelanger Lagerhaft in der eisigen Kälte von Workuta waren die Gefangenen für Jahre spurlos verschwunden. Jahrelang gab es kein Lebenszeichen gegenüber den Eltern, Ehepartnern, Verwandten und Freunden.
So sollte es Dietmar Bockel und abertausenden weiteren ehemaligen deutschen Gulag-Häftlingen ergehen, und so erging es ihnen auch. Dietmar Bockel wurde am 5. August 1950 im Elternhaus in Mühlhausen (Thüringen) verhaftet. Für Jahre war er spurlos verschwunden, verschollen, einfach ausgelöscht. Heute, im Sommer 2023 können wir dankbar sein, dass die Tochter den Nachlass bestehend aus drei Akten voller Briefen und Eingaben (insgesamt 249) ihres Groß- und Urgroßvaters an Grotewohl, Pieck, Ulbricht, Honecker und vielen, vielen anderen "Größen" des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden zunächst der Lagergemeinschaft Workuta übergeben hat. Mittlerweile sind diese Briefe des gesamten Nachlasses hier im Archiv der Bundesstiftung gelagert. Hier sind sie gut aufgehoben.
Wie hieß es noch bei Orwell: "Es wird nichts von Ihnen übrig bleiben, kein Name in einem Register, nicht die Spur einer Erinnerung". Und deshalb ist das Zeitzeugen–Portal workuta.de vor 10 Jahren erstellt worden. Es umfasst mittlerweile 51 Haupt-Biografien und 122 sog. Kurz-Biografien. Diese Aussagen und Dokumente der Zeitzeugen können NIE durch Stalins und Putins Anhänger gefälscht werden. Die Rehabilitierungsurkunden sind von hoher Bedeutung.
Nie werde ich diesen bewegenden Moment vergessen. Es war in Halle an der Saale, die Lagergemeinschaft Workuta tagte in der ehemaligen Strafanstalt "Roter Ochse", es war im Sommer 1996. Horst Hennig, Heini Fritsche und Horst Schüler, die so unendlich viel für die Aufarbeitung getan haben, bewirkten dass viele ihrer Kameraden in den 1990-er Jahren von der russischen Militärstaatsanwaltschaft rehabilitiert wurden. Zu diesem Zweck hatten sie Kontakt zu Oberst Leonid Kopalin, Leiter der Justiz und Abteilungsleiter der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft für Rehabilitierungsangelegenheiten in Moskau aufgenommen. In diesem berüchtigten Knast "Roter Ochse" waren etwa 100 ehemalige Knackis anwesend. Wie viele tausend Knastjahre saßen da zusammen? Auf dem Podium hielt Oberst Kopalin einen Vortrag, und nach einer gewissen Zeit forderte er Erwin Jöris - den Jahrhundertzeitzeugen (!) - auf nach vorne zu kommen, um ihm seine Rehabilitierungsurkunde zu überreichen.
Diese Rehabilitierungsurkunden sind das Eingeständnis der russischen Föderation, dass all diese SMT-Urteile Unrechtsurteile waren. Das damalige Urteil war Unrecht und ist somit aufgehoben. Bei fast allen Zeitzeugen haben wir deren Rehabilitierungsurkunde im russischen Original und in deutscher Übersetzung als Dokument beigefügt.
Und - ich bin dankbar, dass wir in den letzten Jahren noch einige Frauen auf unserem Zeitzeugen-Portal aufnehmen konnten: Edith Fadtke, Helga Sperlich und Rosel Blasczyk. Drei starke und mutige Frauen! Frau Kaminsky, Sie erinnern sich sicherlich noch gut an die gemeinsame Veranstaltung hier im Saal, anlässlich des Frauentags im März 2020. Es war die letzte große Veranstaltung. Danach kam Corona und der strenge Lock-Down. Der Historiker Dr. Meinhard Stark hat diesen Abend so wunderbar mit beiden Zeitzeuginnen Frau Sperlich und Frau Blasczyk moderiert.
Anne Applebaum – und damit komme ich zum Schluss - hat es einmal folgend ausgedrückt: "Wir müssen wissen, warum, und jede Geschichte, jede Erinnerung, jedes Dokument des Gulags ist ein Stückchen. Ohne sie werden wir eines Tages aufwachen und feststellen, dass wir nicht wissen, wer wir sind."
Durch diese heutige Auszeichnung fühlen sich die vielen Frauen und Männer, die so viele Haftjahre in Workuta, Norilsk, in Inta, Taischet oder Potma und all den anderen schrecklichen Lagern aus Stalins Riesen-Reich endlich geehrt, wahrgenommen und gewürdigt.
Wir danken der gesamten Jury – insbesondere dem Spender des Karl Wilhelm Fricke-Preises Herrn Dr. Burghart Veigel - für diese hohe Auszeichnung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Mediathek
Hier finden Sie die Links zum Vorstellungsfilm über die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion sowie zur kompletten Veranstaltung. Sie sind auch in der Mediathek der Bundesstiftung SED-Aufarbeitung zu finden.
Vorstellungsfilm
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/mediathek/karl-wilhelm-fricke-preis-2023-hauptpreis-lagergemeinschaft-workutagulag-sowjetunion.
Veranstaltung
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/mediathek/verleihung-des-karl-wilhelm-fricke-preises-2023.
Ab 1:15:30 die Verleihung des Hauptpreises an die Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion
Impressionen
...schließenEintrag vom 11.06.2023 NEUERSCHEINUNG
Die unerzählte Geschichte des Widerstands in der DDR
Zu recht bekannt und Teil unserer Erinnerungskultur ist die mutige Tat und das erschütternde Schicksal der Gruppe um die Geschwister Scholl. Doch wer kennt Herbert Belter? Wer kennt Wolfgang Ihmels, Jutta Erbstößer oder Wolfgang Natonek? Auch Herbert Belter wurde von den Henkern eines totalitären Staates ermordet, nachdem er Flugblätter verteilt hatte, auch er war erst 21 Jahre alt am Tag seines gewaltsamen Todes.
Klaus-Rüdiger Mai beleuchtet ein unbekanntes Kapitel deutscher Zeitgeschichte
Klaus-Rüdiger Mai erzählt auf der Grundlage intensiver Quellenrecherchen erstmals die ganze Geschichte des mutigen Widerstands Leipziger Studenten gegen die Stalinisierung Ostdeutschlands und bettet ihre Geschichte ein in die Unterdrückung demokratischer Anfänge in der DDR von ihrer Gründung 1949 bis zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Ein Lehrstück über das Werden einer Diktatur und über Mut und Widerstand.
Der Autor: Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil, geb. 1963, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die religiösen, philosophischen und künstlerischen Kulturen Europas gestern und heute sowie die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands und Osteuropas. Er ist erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor, Essayist und Publizist und lebt mit seiner Familie bei Berlin.
Mai, Klaus-Rüdiger:
Der kurze Sommer der Freiheit
Herausgeber: Herder Verlag
320 Seiten
ISBN 978-3-451-39463-8
1. Auflage 2023
Eintrag vom 10.06.2023 TREFFEN 2. und 3. GENERATION
Am 3. Juni 2023 trafen sich zum ersten Mal Nachkommen und Angehörige von GULag-Häftlingen in den Räumen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Kronenstraße in Berlin. An dem Treffen nahmen 19 Personen teil. Manche kannten sich bereits von den Jahrestreffen der Lagergemeinschaft Workuta, und manche lernten sich erst hier kennen. Aber trotzdem war die Atmosphäre von einer ungeahnten Vertraulichkeit und einem großen Vertrauen geprägt. Ein Schwerpunkt war das Kennenlernen. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin erzählte. Jede der 19 Vorstellungen war einzigartig, jeder einzelne Redebeitrag berührte und erschütterte zugleich.
Ein Bericht von Stefan Krikowski
Hart brach das Leid verursacht durch kommunistische Machthaber und ihre Handlanger in den Erzählungen der Anwesenden durch. So unterschiedlich die Erzählungen auch waren, eins wurde abermals deutlich: der Kommunismus an sich, und die Menschen, die sich dieser Leere (!) verschrieben haben, waren und sind zutiefst menschenfeindlich. Und: die DDR war von Anfang an Unrecht, sogar, die DDR ist aus Unrecht entstanden.
Die Erzählungen:
Da ist die Verbannung in die Eishölle, in die der Vater und Großvater verschleppt worden war, und aus der er und seine Familie selbst nach Ablauf der Haftzeit nicht entkommen durften. Ausreisefreiheit gab es erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dankbarkeit für diese Rettung und die spät erlangte Freiheit ist vorherrschend. Da ist die Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass das Bleiben in der DDR nach der Rückkehr aus dem GULag-Lager Taischet der größte Fehler gewesen sei. Die Drangsalierungen, die Demütigungen, das Zerstören von Lebensentwürfen, von Geschenken hörten bis zum letzten Atemzug der DDR nie auf. Die Handlanger des SED-Regimes zwangen selbst in ihren letzten Zügen der Macht noch, die Kerzen im Fenster zu löschen, damit Angst in den Menschen weiterflackert. Da sind die Erzählungen, dass die Väter dem kommunistischen Menschenfresser-System ausgeliefert wurden, weil sie wussten, welche Rolle der jeweils Andere im Nationalsozialismus hatte, jetzt aber bei den SED-Genossen Karriere machen wollte. Bei den kommunistischen Machthabern gilt, dass, wer festgenommen wird, schuldig ist. In den Verhören gilt nicht die Unschuldsvermutung. Sondern der Verhörte muss beweisen, dass er oder sie unschuldig ist. Gestanden wird am Ende immer, denn die Methoden der Schergen sind Schlafentzug, Zeit, Zersetzung, Wasserkarzer und wenn es sein muss, körperliche Gewalt, Folter. Da ist die Geschichte der Sippenhaft, der Onkel wird zum Tode verurteilt und erschossen, die Tante nach Workuta verschleppt, die Mutter festgenommen, der Vater in DDR-Gefängnisse eingesperrt. Da sind die Erzählungen vom Schweigen müssen, sich nicht wagen zu fragen, nicht erzählt zu bekommen, von emotionalen Ausbrüchen, vom Absturz, vom Verstummen. Da ist die Erzählung vom immer wiederkehrenden Trauma des Nicht-Abschied-Nehmen können, was sich von einer Generation auf die Nächste überträgt. Da ist die Überforderung, was tun mit dem Erbe? Muss ich den Wunsch meines Vaters erfüllen, und den handschriftlichen 500-Seiten Bericht vernichten? Darf ich ihm den Wunsch abschlagen, weil ich es für wünschenswert erachte, dass die Nachwelt davon erfährt? Da ist die Traurigkeit, den Vater nie so glücklich erlebt haben zu dürfen, wie ein Foto nach seiner Ankunft in West-Berlin ihn zeigt. Da ist die Verwunderung, dass selbst da oben in der Eishölle, der Hunger nach Dichtung ungebrochen war. Selbst dort wurden Gedichte aus dem Gedächtnis abgerufen und niedergeschrieben. Selbst an diesem menschenfeindlichen Ort in Workuta wurden eigene Gedichte verfasst. Da sind aber auch die Geschichten innerer Stärke, aus der familiären Last letztendlich gestärkt hervorgegangen zu sein. "I will survive!" So singt und vibriert es in den Teilnehmern. Da kann sogar die Jacke der unzugänglichen Väter – mittlerweile längst verstorben - einen umhüllen und schützen.
Die Kaffeepause tat gut, die Zeit war aber viel zu knapp. Denn schon ging es weiter mit dem zweiten Teil, der Film von Uli M. Schüppel "Jahre der Kälte". Leider fehlte im Anschluss die Zeit, sich über den Film auszutauschen. Ich habe den Film nun mehrmals gesehen und bin jedes Mal von der Gestaltung, der Komposition von Bildern, Sprache, Stimme und der Musik von Blixa Bargeld, die Wehmut und Melancholie transportiert, beeindruckt. Uli Schüppel geht mit seiner Kamera nahe an die Zeitzeugen heran. Er zeigt die Zeitzeugen mit Fokus auf Augen und Mündern von nah, ziemlich nah und hält die zerfurchten Gesichtszüge der Haft-Kameraden seines Vater fest. Sein Vater Horst Schüppel war im 10. Lager (29. Schacht) von Workuta und hat die Niederschlagung des Streiks unmittelbar erlebt. Im Gegensatz zu 64 seiner Mithäftlinge, überlebte er den sowjetischen Massenmord vom 1. August 1953. Ausgangspunkt des Films ist ein Brief, den Horst Schüppel während des Streiks nur wenige Tage vor dem 1. August 1953, nicht wissend ob er diese Tage, den Streik überleben werde, an seinen ungeborenen Sohn schrieb. Horst Schüppel starb 1987 im Alter von 64 Jahren, zu früh. Uli entdeckte diesen Brief erst Jahre nach seinem Tod. Als Kind und Jugendlicher war die Haft seines Vaters kein Thema, darüber wurde nicht gesprochen. Die Entdeckung dieses Briefes muss ein Schock gewesen sein, woraus dieser Film entstand. Unter den insgesamt 15 interviewten Zeitzeugen waren u.a. Werner Gumpel, Günter Albrecht, Dietrich Hartwig, Bernhard Schulz, Horst Schüler, Sigurd Binski und Theodor Desens. Im Juni 1993 reiste Uli Schüppel für die Filmaufnahmen auch nach Workuta, es muss surreal gewesen sein.
Bei der Abschlussrunde wurde die Verleihung des Karl-Wilhelm-Fricke-Preises an die Lagergemeinschaft am 15. Juni besprochen. Es wäre schön, wenn doch zumindest die Teilnehmer aus Berlin zahlreich zur Preisverleihung kämen. Es wäre wichtig, dass neben den beiden Zeitzeugen Peer Lange und Dietrich Schopen, Edda Ahrberg und mir auch weitere Angehörige der Lagergemeinschaft an der Ehrung teilnehmen.
Auf Anregung von Edda Ahrberg wurde vereinbart, dass wir uns im nächsten Jahr wieder Treffen. Als Zeitpunkt wurde eine andere Jahreszeit gewünscht, da einige den Monat Juni als ungünstig empfanden. Viele präferierten den Frühling. So wurde festgehalten, dass wir uns nach Ostern im April 2024 treffen sollten. Wir regten an, dass wir uns an einem der Haftorte, wie z.B. Demmlerplatz/Schwerin, Lindenstraße/Potsdam oder "Roter Ochse" in Halle treffen könnten. Wichtig sei eine gute Zuganbindung. Edda Ahrberg wird in der Gedenkstätte "Roter Ochse" nachfragen, ob wir dort tagen könnten.
Resumee: Da ist der gemeinsame Wunsch, dass die Erinnerung weitergetragen wird. Es war ein bewegender, niederschmetternd-erdrückender, ermutigender und herzerwärmender Nachmittag.
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...schließenEintrag vom 13.05.2023 DIETMAR BOCKEL
Ergänzung der Dokumentengalerie
am 5. August 1950 wurde Dietmar Bockel um 22:15 Uhr in der elterlichen Wohnung in Mühlhausen (Thüringen9 festgenommen. Für die Eltern begann eine jahrelange Suche um zu erfahren, wohin das MfS ihren Sohn verschleppt hatte. Zwischen 1950 und 1957 schrieben Vater Rudolf und Großvater Heinrich Bockel 249 Briefe an Regierungen, Ministerien, Parteien und Institutionen in der DDR. Eine Auswahl von 65 Briefen wurde in einem Dokument erstellt und nachträglich der Dokumentengalerie des Zeitzeugen beigefügt. So wurden ca. ¼ aller Briefe aufgeführt, um dem interessierten Leser die ganze Tragik zu zeigen und zu dokumentieren. Der Leser ahnt, in welchen Ängsten, Sorgen und Nöten die Eltern sich befanden, um den Verbleib des einzigen Kindes! Aber der Leser kann auch erfahren, mit welcher Beharrlichkeit, Intelligenz, Penetranz und großem Mut sie Staats- und Ministerpräsidenten und weitere Führungspersönlichkeiten der DDR anschrieben und diese mit dem Unrecht der Verhaftung und des spurlosen Verschwinden ihres Sohnes konfrontierten. Vater und Großvater Bockel ließen nicht locker. Wir sind dankbar, dass Dietmar Bockels Tochter Kerstin der Lagergemeinschaft Workuta den Nachlass zur Verfügung gestellt hat. Mittlerweile ist der Nachlass der Bundestiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin übergeben worden. Die Auswahl der Briefe können Sie in der Dokumentengalerie Nr. 14 (Briefe) von Dietmar Bockel nachlesen.
...schließenEintrag vom 11.02.2023 LETZTE ADRESSE
Am 24. Januar 2023 wurde die Gedenktafel "Letzte Adresse" im Gedenken an Horst Avemann in Parey (Sachsen-Anhalt) angebracht.
- Horst Avemann, Haftfoto
Quelle: "Erschossen in Moskau …" Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953, Hg. A. Roginskij, F. Drauschke, A. Kaminsky
- Bürgermeisterin Nicole Golz (li.) und die Landesbeauftragte Birgit Neumann-Becker (re.)
Ansprache zur Anbringung des Gedenkzeichens „Die letzte Adresse“ für Horst Avemann, 24. Januar 2023 in Parey (Elbe)
"Warum stehen wir an diesem kalten und unwirtlichen Wintertag hier und bringen eine Erinnerungstafel an einen ehemaligen Volkspolizisten an, den wohl kaum einer hier persönlich noch kennt, über dessen Leben wir überhaupt nur recht wenige Informationen besitzen? Wäre es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen und uns den zweifellos sehr drängenden Problemen der Gegenwart zuzuwenden?
- Gedenktafel "Letzte Adresse" für Horst Avemann
Als sich nach dem Zerfall der Sowjetunion die Archive öffneten und die Quellen das wahre Ausmaß der stalinistischen Verfolgung im gesamten sowjetischen Machtbereich offenbarten, stellte sich dieses Problem auf eine ganz andere Weise neu dar. In den Datenbanken der Menschenrechtsorganisation Memorial sammelten sich die Namen von mehreren Millionen Namen von politisch Verfolgten während der Herrschaft Stalins – eine schier unüberschaubare Masse, hinter der die Einzelschicksale kaum mehr wahrnehmbar waren. Doch jeder Mensch hat – wie es unser Grundgesetz nach den Menschheitsverbrechen des NS formuliert – eine Würde und jedes Menschenleben verdient eine Würdigung.
2013 fanden sich deshalb Mitarbeiter von Memorial, Journalisten und Historiker zusammen und gründeten die Stiftung "Die letzte Adresse". Mit diesem Projekt soll individuell an Stalinismus-Opfer nach dem Prinzip: "Ein Name, ein Leben, ein Gedenkzeichen" erinnert werden. Inspiriert haben das Projekt die von Gunter Demnig kreierten Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus, doch sind sie durch ihre Gestaltung gut unterscheidbar. Das ist insbesondere für die Verwendung hier in Deutschland wichtig, denn die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus darf nicht dazu verleiten, die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren und zu verharmlosen. Deshalb prüft die Stiftung "Die letzte Adresse" auch genau, ob eine Person in NS- oder Kriegsverbrechen oder in noch heute justiziable kriminelle Straftaten verstrickt war, bevor eine Gedenktafel für sie angebracht wird.
Seit 2014 sind mehr als 1.100 solcher Gedenkzeichen an den letzten Wohnorten von Stalinismus-Opfern montiert worden, die meisten in Russland. Gedenkzeichen finden sich auch in der Ukraine, in Moldawien, Tschechien und Georgien und eben in Deutschland. Der Stalinismus war kein nationales Phänomen, sondern hat in vielen Teilen Europas Opfer gefordert. Von den fünf bislang in Deutschland installierten Gedenkzeichen gibt es mit dem heutigen Tag zwei in Sachsen-Anhalt. Das erste haben wir im Juli 2020 in Naumburg zur Erinnerung an Helmut Sonnenschein angebracht. Angesichts von mindesten 140 Menschen aus Sachsen-Anhalt, die zwischen 1950 und 1953 in Moskau erschossen wurden, ist dies nur eine sehr kleine Zahl. Umso mehr danke ich sehr herzlichen allen Beteiligten für ihr Engagement, für ihre Unterstützung und vor allem den Mitarbeitern der Stiftung "Die letzte Adresse" für ihre Zivilcourage und ihren Mut, gerade unter den heutigen Bedingungen in Russland.
Erst am vergangenen Sonntag (22. Januar 2023) hat der erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei "Einiges Russland" Dmitri Vjatkin dazu aufgerufen, Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" aus dem Lektürekanon an russischen Schulen zu streichen. Das Buch, so begründete Vjatkin seine Forderung, würde "Schmutz auf die eigene Heimat werfen". Das ist das heutige Russland, werden sich einige von Ihnen jetzt denken und es war auch in der DDR eines der verbotenen Bücher von dessen Existenz niemand wissen sollte. Verbotenes Wissen ist fester Bestandteil von Diktaturen. Und nicht zuletzt sind auch aus Sachsen-Anhalt Menschen von SMT zum Tode verurteilt worden, bei denen auch ein Band von George Orwells 1984 gefunden wurde.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns hier in der Ernst-Thälmann-Straße. Vor fast 100 Jahren, im Oktober 1923, zettelte Ernst Thälmann in Hamburg einen bewaffneten Aufstand nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution an, der der Weimarer Republik ein Ende setzen sollte. 88 Menschen verloren dabei ihr Leben. Hieran zeigt sich: Auch wir Deutsche, wir in Sachsen-Anhalt sind mit unserer Geschichte noch lange nicht im Reinen. Ernst Thälmann – Teddy – ist in der DDR Tradition noch eine weithin unkritisch betrachtete politische Figur. Paradox das noch immer Straßen seinen Namen tragen und nicht die der Opfer des Stalinismus und der SED-Diktatur bzw. von Bürgerrechtlern. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir solche Gedenkzeichen wie "Die letzte Adresse" bekommen. Sie laden uns in unserem Alltag zum Innehalten und zum Nachdenken ein. Das Gedenkzeichen an ein Opfer des Stalinismus in der Ernst-Thälmann-Straße versinnbildlicht die Widersprüche und Ambivalenzen der deutschen Erinnerungskultur, doch aus dieser Widersprüchlichkeit sollte eine gesellschaftliche Diskussion hier vor Ort angeregt werden. Die Erinnerungskultur in einem demokratischen Staat ist offen und stets einem Wandel unterworfen. Gedenkzeichen sollen daher kein bestimmtes Geschichtsbild vorgeben, sondern zur historisch-politischen Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger beitragen. Ich würde mich sehr freuen, wenn dies an diesem Ort gut gelingt."
...schließenEintrag vom 22.01.2023 ANITA WILLE IST TOT
Am 15. Januar 2023 verstarb Anita Wille in Alter von 91 Jahren in Mulsum (Niedersachsen).
Ein Nachruf von Edda Ahrberg
Anita Wille. Nachruf auf eine selbstbewusste Frau
- Anita Wille, 2014
Anita Wille nimmt über viele Jahre an den Treffen der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion teil. Sie bringt sich immer wieder in Diskussionen über den Haftalltag, besonders den der Frauen, ein. 1999 erfolgt die Rehabilitierung durch die Russische Generalstaatsanwaltschaft. 2004 besucht sie mit zwei Haftkameraden Workuta. Die Begegnung mit den jetzt dort lebenden Menschen hilft, das eigene Erlebte einzuordnen: "Für mich war es gut, dass ich hier war. […] Was mich sehr beeindruckt hat, war, als wir auf dem Friedhof waren und als wir […] das Treffen hatten mit den alten Frauen, die das gleiche Schicksal wie wir erlebt hatten, und wir mit ansehen mussten, wie armselig die hier wohnen."
Als Zeitzeugin berichtet sie mehrfach über ihre Haftzeit. Ihr ist wichtig, dass diese Zeit nicht vergessen wird. Ihr Fazit lautet in einer Fernsehdiskussion 2008: "Ich sage immer: Unter den primitivsten Verhältnissen, wenig zu essen, schwere Arbeit - aber du stirbst nicht!"
Bis zuletzt hält Anita Wille telefonisch Kontakt zu ehemaligen Mitgefangenen und deren Familien. Am 15. Januar 2023 verlässt sie im Alter von 91 Jahren die Kraft. Ihre klare und deutliche Stimme, ihr Lächeln und ihr Humor fehlen zukünftig in der Aufarbeitungslandschaft.
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